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Die Wohnung ist verletzlich

Rechte, die nicht exerziert werden können, sind bedeutungslos, schrieb Paul Milgrom. Während – ja, gerade weil – die Politik neue digitale Rechte anstrebt, um das Private und Geschäftliche zu reglementieren und die Cyberkriminalität einzudämmen, wird die Schwäche in der Durchsetzung ganz real bestehender Grundrechte deutlich. Alexandra Sowa mit einem Weckruf.

BÖRSE am Sonntag

Rechte, die nicht exerziert werden können, sind bedeutungslos, schrieb Paul Milgrom. Während – ja, gerade weil – die Politik neue digitale Rechte anstrebt, um das Private und Geschäftliche zu reglementieren und die Cyberkriminalität einzudämmen, wird die Schwäche in der Durchsetzung ganz real bestehender Grundrechte deutlich.

Von Alexandra Sowa

Das Land Hessen wollte Computersysteme besser vor Hackerangriffen schützen. Im Juli 2016 legte es dem Bundesrat einen Gesetzentwurf vor, mit dem Computer, Laptops, Smartphones, Navigationssysteme, internetfähige Fernseher und Kühlschränke vor dem unbefugten Eindringen durch Kriminelle geschützt werden sollten. Mit dem neuen Paragraphen solle nun die Kriminalität im Internet wirksam bekämpft und insbesondere die Gefahr illegaler Botnetze gebannt werden. Dieser „digitale Hausfriedensbruch“ sollte mit eigenem Straftatbestand durch Einfügung eines neuen § 202e in das Strafgesetzbuch, StGB und daraus folgend mit Freiheitsentzug von bis zu zehn Jahren geahndet werden.

Der Mensch lebt auch im Netz

„Bürgerinnen und Bürger müssten in ihrem immer vernetzteren Alltag auch dann geschützt sein, wenn sie keine Technik-Experten sind“, heißt es in der Begründung der Initiative. Im Strafgesetzbuch gibt es inzwischen zahlreiche sogenannte neue Straftatbestände, die helfen sollen, Computerkriminalität zu bekämpfen, darunter auch Straftatbestände, die auf neue kriminelle Praktiken in der Wirtschaftskriminalität abzielen: Datenveränderungen, § 303a StGB; Computerbetrug, § 263a StGB; Ausspähen fremder Daten, § 202a StBG, Computersabotage, § 303b StGB und der neue Straftatbestand der Datenhehlerei, § 202d StGB.

Vielen gehen diese Gesetzesinitiativen nicht weit genug. „Angesichts der immensen Bedeutung der netzgestützten Interaktion halten viele Expert_innen eine formale Kodifizierung von Netz-(Grund-)Rechten für überfällig“, schrieb Johanna Niesyto von der Friedrich Ebert Stiftung. Jenseits informeller Abreden, Netiquette, Governance-Prinzipien und freiwilligen Verpflichtungen wird vielerorts der Ruf nach speziell für die digitale Welt gestalteten Rechten laut: nach digitalen Grundrechten.

Was offline gilt, gilt auch online

„Es ist eigentlich ganz einfach“, schreibt Dr. Matthias C. Kettemann in Völkerrecht in Zeiten des Netzes. „Alle Menschenrechte, die offline gelten, gelten auch online.“ Das gilt insbesondere auch für das Recht auf Privatsphäre, das, so Kettemann, „auf Ebene der Menschenrechte geschützt [ist] durch Artikel 12 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, die inzwischen großteils als Völkergewohnheitsrecht angesehen wird, sowie Artikel 17 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte (IPbpR) und Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). Das Recht auf Datenschutz ist international […] nicht explizit verankert, wird aber als spezifisch ausgestalteter Teilbereich des Rechts auf Achtung der Privatsphäre angesehen.“

Im deutschen Grundgesetz wird das Recht auf Privatsphäre nicht explizit erwähnt. Es wird aus einer Reihe anderer Grundrechte abgeleitet, etwa aus dem in Artikel 13 des Grundgesetzes (GG) verankerten Recht auf Unverletzlichkeit der Wohnung, das in demokratischen Gesellschaften konstitutiv ist. Wann und unter welchen Bedingungen in die Unverletzlichkeit der Wohnung überhaupt eingegriffen werden darf, wird in Artikel 13 GG genau beschrieben. Durchsuchungen oder Eingriffe dürfen nur durch den Richter, bei Gefahr im Verzug durchgeführt werden, beim begründeten Verdacht oder zur Abwehr dringender Gefahren für die öffentliche Sicherheit. Im Übrigen dürfen Eingriffe und Beschränkungen nur zur Abwehr einer gemeinen Gefahr oder einer Lebensgefahr für einzelne Personen, aufgrund eines Gesetzes auch zur Verhütung dringender Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung erfolgen.

„Zum Schutz der Grundrechte schreiben die Gesetze im Falle von deren Einschränkung häufig eine vorherige Kontrolle durch den Richter vor, um übereifrige Sicherheits- und Strafverfolgungsorgane zu bremsen“, schreibt Till Müller-Heidelberg im Grundrechte-Report 2016. Wenn die Eingriffsmaßnahmen unter Richtervorbehalt stehen, den das Bundesverfassungsgericht als „Grundrechtesicherung“ versteht, werden sie bei verfassungsgerichtlichen Prüfungen oft akzeptiert. Dies ist insbesondere im Hinblick auf die „in den letzten zwei Jahrzehnten zunehmend vorgesehenen Einschränkungen der Grundrechte im angeblichen Interesse der Sicherheit, etwa bei Wohnungsdurchsuchungen oder Überwachungsmaßnahmen,“ relevant.

Bürger, wehrt euch selbst

Doch während die Polizei einen begründeten Verdacht und eine richterliche Anordnung benötigt, um eine Wohnung zu betreten, gelten solche stringente Vorgaben offenbar kaum für die Privateigentümer und Vermieter. Man nehme ein Szenario, in dem der Vermieter einfach so, alleine oder in Begleitung, eine vermietete Wohnung mit einem Zweitschlüssel in Abwesenheit der Mieter betritt. Das sei verboten, sagen die Juristen. Macht er das trotzdem, muss er dennoch kaum Konsequenzen befürchten. Es gibt zwar im Strafgesetzbuch den Tatbestand des Hausfriedensbruchs, der in Deutschland im § 123 StGB geregelt ist. Hausfriedensbruch wird demnach als die vorsätzliche Verletzung des verfassungsrechtlich geschützten Gutes der Unverletzlichkeit „befriedeter Besitztümer“ (womit auch eine Mietwohnung gemeint ist) definiert.

Doch der Straftatbestand des Hausfriedensbruchs, der ausschließlich das individuelle Hausrecht schützen soll, ist im 7. Abschnitt des StGB, „Straftaten gegen die öffentliche Ordnung“, zu finden. Für den modus operandi bedeutet das Folgendes: Der Mieter erstattet bei der Polizei eine Anzeige wegen Hausfriedensbruchs. Die Staatsanwaltschaft entscheidet selbst, ob sie ein „öffentliches Interesse an der Strafverfolgung“ für gegeben hält. Das ist bei solchen Delikten vor dem Hintergrund „privater Streitigkeiten“ nach Meinung der Staatsanwaltschaft häufig nicht der Fall, es erfolgt keine Anklage. Obwohl der Straftatbestand erfüllt ist. Das ist zwar opportun und hat nichts mit Recht zu tun, ist jedoch gängige Praxis.

Privatklagen sind selten, nicht zuletzt im Hinblick auf die Kosten und die an Unmöglichkeit grenzende Schwierigkeit, einen Hausfriedensbruch in einem solchen Fall zu beweisen (ausgenommen, man hat in jeder Ecke der Wohnung eine Kamera platziert). Auch vorausgesetzt, man findet einen Anwalt, der bereit wäre den Fall – bei einem hohen Arbeitsaufwand und wenig Ertrag – zu übernehmen. Ausnahmen, wie das Urteil vom Brandenburgischen Oberlandesgericht, gibt es dennoch. In seinem Urteil vom 27. Mai 2009 (3 U 39/09) hat dieses OLG entschieden, dass, wenn der Vermieter die Wohnung auf den bloßen Verdacht hin betritt, es liege ein Wasserrohrbruch vor, er einen Hausfriedensbruch nach § 123 StGB begeht. Der Mieter könne, so das OLG weiter, von dem Vermieter wegen vermuteter Wiederholungsgefahr die Abgabe einer strafbewehrten Unterlassungserklärung verlangen. Dabei ist im Strafgesetzbuch für Hausfriedensbruch eigentlich eine Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder eine Geldstrafe vorgesehen.

Warum online, wenn es auch offline geht?

Eine „akute Gefahr“ muss offenbar noch lange nicht bestehen, damit der Vermieter die „befriedeten Besitztümer“ seiner Mieter betreten kann: Reparaturbedarf reicht vollkommen – auch dem Gericht, das die einstweilige Verfügung ausstellt, damit zum Beispiel ein fiktives Rohr ausgetauscht werden kann. Eigentlich sollte das Gericht, wenn es in einem bestimmten Fall entscheiden muss, ob dem Vermieter ein Zutrittsrecht zusteht, die Interessen von Mieter und Vermieter gründlich abwägen. Denn hier stehen die Grundrechte der Mieter von Artikel 13 GG (Unverletzlichkeit der Wohnung) Artikel 14 GG (Grundrecht auf Eigentum) der Vermieter entgegen. Zu wessen Gunsten diese Abwägung in einer kapitalistischen Gesellschaft ausfällt, zeigt eine Reihe von in den letzten zwei Jahrzehnten gefallenen Urteilen: Schon die Absicht, Modernisierungsmaßnahmen durchzuführen (AG Berlin-Mitte – 29. März 2010 – 16 C 59/09) oder der Verdacht auf Tierhaltung in der Wohnung (AG Rheine – 4. März 2003 – 4 C 668/02), wird dem Gericht reichen, um den Vermietern das Zutrittsrecht zuzusprechen.

In den Foren häufen sich inzwischen Fragen der Mieter, die den zunehmenden Verletzungen ihrer Privatsphäre in den eigenen vier Wänden einen Riegel vorschieben möchten. Auch dann, wenn sich diese in exzessiven Besuchen der Vermieter oder Handwerkerterminen manifestieren. Wer sein Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung wahrnehmen möchte, muss allerdings regelmäßig mit einer gerichtlichen Anordnung rechnen. Der Mieter hat das Recht auf Privatsphäre – der Vermieter das Recht auf Privatsphäre und Besitz. Also ein Recht mehr als der Mieter – eine Rechtsgüterabwägung par excellence.

Juristische Lösung: Zylinder wechseln

Welche Gefahren dieser Umgang mit der Privatsphäre birgt, wird dann klar, wenn man bedenkt, dass man bei einem unkontrollierten Besuch in einer Wohnung nicht nur etwas mitnehmen, sondern auch etwas hinterlassen kann. Im Darknet kann man käuflich eine Dienstleistung erwerben, bei der auf dem Rechner des Opfers kompromittierendes Material platziert wird, was zu einer Verhaftung führen kann. Ausweisdokumente, Schlüssel, Zugangskarten oder Mitarbeiterausweise werden in der Wohnung aufbewahrt (wo denn sonst?). Mit gestohlener Identität kann beispielsweise ein Onlineshop mit gefälschten Markenwaren eröffnet werden. In vielen Ländern ist das strafbar. Betroffene wurden laut einer Recherche des NDR aufgefordert, Schadensersatz in Millionenhöhe zu zahlen. Und da man in den USA in Abwesenheit verurteilt und ein Gerichtsurteil mit einem Haftbefehl vollstreckt werden kann, kann ein ahnungsloses Opfer von Identitätsdiebstahl beim Versuch der Einreise in die USA direkt am Flughafen festgenommen werden.

Warum sollte ein Hacker versuchen, über mehrschichtige Firewalls des Netzanbieters und Routers sowie des Computers seines Opfers einzubrechen, wenn er in die Wohnung marschieren und einen Rechner – oder das, was sich darauf befindet – einfach mitnehmen kann? Auch für Hacker gilt: Man nimmt den Weg des geringsten Widerstands. Denn für einen Computereinbruch drohen laut „Hackerparagraf“ bis zwei Jahre Gefängnisstrafe. Nicht aber, wenn man eine Wohnung wegen eines vermeintlichen Wasserbruchs betritt und Festplatten spiegelt, Kreditkarten und Schlüssel kopiert oder eine kleine Malware auf dem Rechner installiert. Zweitschlüssel beim Vermieter? Selber schuld. Im Mietrecht liegt eine einfache Lösung des Problems, rät der Mieterbund: Wechseln Sie den Zylinder aus.

Hier kokelt was …

Das, was der Eigentümer heute macht, würde die Polizei auch gerne können. Darin liegt möglicherweise auch die Quelle des Problems: Das traditionelle Verfassungskonzept regelt das Verhältnis Staat-Bürger. Das „ging naiv von einem übermächtigen […] Staat aus, gegen den sich Privatunternehmen, Arbeitgeber, Arbeitnehmer und Privatleute gleichermaßen wehren müssen“, sagt Wolfgang Zimmermann vom Arbeitskreis (AK) Digitale Gesellschaft. Doch der Staat hat den Großteil seiner Macht infolge der Privatisierung und jetzt zunehmend durch die Digitalisierung eingebüßt. „Wir haben es mit privaten Supermächten zu tun“, sagte der Historiker Timothy Garton Ash. Wobei die Internetkonzerne wie Facebook oder Google nur ein Teil des Problems darstellen.

In einer „Smarten Diktatur“ gibt es wieder vordemokratisch verfasste Privatorganisationen mit gesellschaftlicher Reichweite, die das Leben von Menschen reglementieren, zitiert Martin Rost vom AK den Autor Harald Welzer. „Es ist normativ zu regeln, wie Organisationen mit Menschen umgehen dürfen“, so Martin Rost. Dafür bedarf es keiner Konstitution von speziellen digitalen Grundrechten, die vorhandenen reichen aus. „Es bedarf einzig und alleine und nach wie vor der Durchsetzung der bestehenden Grundrechte“. Und solange sich nichts ändert, sieht die Realität einer Wohnungsdurchsuchung möglicherweise bald so aus wie in diesem fiktiven Dialog zwischen zwei Polizisten und einem Hausmeister aus dem deutschen Krimi Tödliche Geliebte von Wolfgang Burger:

Ich wandte mich zum Hausmeister. „Ihr Generalschlüssel passt doch bestimmt auch für diese Wohnung?“
„Ich darf aber nicht rein, wenn er nicht da ist.“
„Außer bei Gefahr, natürlich.“
„Wenn’s brennt oder so. Da haben Sie recht.“
Ich sah Balke an. „Haben Sie nicht auch den Eindruck, dass es hier brenzlig riecht?“
Balke reckte völlig ernst die Nase in die Luft. „Jetzt, wo Sie es sagen, Chef, stimmt, hier kokelt was.“
„Na also“, meinte die Blondine befriedigt. „Geht doch.“

Diese Kolumne erschien zuerst auf dem Portal des Debattenmagazins The European.