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Vor 100 Jahren: Als das Reich den Frieden wollte

Zu einem erfolgreichen Friedensangebot gehören immer zwei Seiten. Eine, die Friedensverhandlungen anbietet, und die andere, die zumindest das Verhandlungsangebot annimmt. Am 12. Dezember 1916, mitten im Ersten Weltkrieg, unterbreiteten die Mittelmächte der Entente einen solchen Vorschlag. Am 30. Dezember lehnte die Entente ab. Mit Folgen bis auf den heutigen Tag, zum Beispiel in Syrien, wie Alexander Graf bemerkt.

BÖRSE am Sonntag

Zu einem erfolgreichen Friedensangebot gehören immer zwei Seiten. Eine, die Friedensverhandlungen anbietet, und die andere, die zumindest das Verhandlungsangebot annimmt, um an der diplomatischen Lösung des gewaltsamen Konfliktes zu arbeiten. Am 12. Dezember 1916, mitten im Ersten Weltkrieg, unterbreiteten die Mittelmächte der Entente einen solchen Vorschlag. Am 30. Dezember lehnte die Entente ab. Mit Folgen bis auf den heutigen Tag, zum Beispiel in Syrien: weil die Westmächte damals im selben diplomatischen Kontext einen Grundstein für den Nahostkonflikt legten.

Von Alexander Graf

Nach zweieinhalb Jahren des Blutvergießens im Ersten Weltkrieg mit bisher unbekannten Ausmaßen an Zerstörungen und Opfern wollten das Deutsche Reich, Österreich-Ungarn, die Türkei und Bulgarien ihre Feinde wieder an den Verhandlungstisch bringen. Doch die Gegenseite lehnte dieses Ansinnen am 30. Dezember ab. Das weltweite Völkerringen sollte noch knapp zwei weitere Jahre dauern und Millionen weiterer Menschen das Leben kosten.

Letztlich sollten sich nach dem Eingreifen der USA die mit ihnen verbündeten Franzosen, Briten und Russen durchsetzen. Doch um den Jahreswechsel 1916/17 schienen die Trümpfe bei den Mittelmächten zu liegen. Diese hatten die feindlichen Offensiven des abgelaufenen Jahres an der Somme und an der Ostfront erfolgreich abgewehrt. Der Kriegseintritt Rumäniens an der Seite der Entente hatten dieser keinen Vorteil gebracht – das Gegenteil war der Fall. So rückten deutsche Truppen am Nikolaustag in der rumänischen Hauptstadt Bukarest ein und besetzten große Teile des Landes. Die hochgelobte britische Flotte hatte bei der Skagerrak Schlacht am 31. Mai und 1. Juni gegen die kaiserliche Kriegsmarine nur ein Unentschieden errungen und dabei höhere Verluste als ihre Gegner erlitten. Außerdem hatte die gut 300 Tage dauernde Schlacht um Verdun gezeigt, dass trotz hunderttausender Toter keine nennenswerten oder dauerhaften Geländegewinne erzielt werden konnten. Wäre es in dieser Situation nicht das Beste gewesen, man hätte das Schlachten beendet und wäre zu Verhandlungen übergegangen?

Aber warum wollten die Entente-Mächte weiterkämpfen? Sicherlich, gerade das Deutsche Reich litt unter der Seeblockade und die Versorgungslage war schlecht. Auch hatten die Siege des Jahres Kraft gekostet. Doch auch die Feinde waren in einer Situation, in der sie keinesfalls erwarten konnten, dass 1917 ein Selbstläufer werden würde. Es sei nur daran erinnert, dass Russland nach der Oktoberrevolution ausscheiden sollte, und es auch unter den Truppen der westlichen Mächte zeitweilig zu Meutereien kam. Zudem sollte es noch bis 1918 dauern, bis die USA aus Akteur in Europa in Erscheinung treten sollten.

In der „Welt“ vertrat Sven Felix Kellerhoff in einem unlängst erschienenen Artikel die These, der anmaßende Ton der Mittelmächte habe das Verhandlungsangebot von vornherein konterkariert und als bloßes Manöver erscheinen lassen. Als Beweise führte er Formulierungen von der „unüberwindlichen Stärke“ der deutschen Truppen an. Weiter kritisierte er, dass man vonseiten der deutschen Regierung darauf bestand, man sei 1914 gezwungen worden, in den Krieg zu ziehen. Kellerhoffs These sagt indessen mehr über das immer noch in Deutschland vorherrschende Geschichtsbild aus, als über zeitgenössische Formulierungen in diplomatischen Schreiben. Dabei sollte spätestens seit Christopher Clarks herausragender Arbeit zur Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs das bundesrepublikanische Dogma von der deutschen Alleinschuld am Kriegsausbruch erschüttert, wenn nicht gar überwunden sein.

Sicherlich hätte das Deutsche Reich anbieten können, sich aus den besetzten belgischen und französischen Gebieten zurückzuziehen. Doch warum? Gerade in der Situation der Stärke wäre das erst Recht ein Zeichen der Schwäche gewesen. Außerdem waren die eigenen Kolonien in feindlicher Hand.

Gewisse Parallelen zur Situation im derzeit tobenden Syrienkrieg drängen sich auf. So findet sich in deutschen Medien oft der Vorwurf, der syrische Präsident Assad stünde einer friedlichen Lösung des Konfliktes im Weg. Mal wurde insistiert, es könne nur ohne ihn Frieden geben. Mal wurde Kritik daran geäußert, dass er nicht zu Friedensverhandlungen bereit sei.

Ungeachtet des Umstandes, dass Assad mit russischer Unterstützung langsam aber sicher immer mehr Boden gut macht, stellt sich eine nicht unerhebliche Frage: Mit wem sollte er denn verhandeln? In dem Gewirr der unterschiedlichen Kriegsparteien blicken auch Nahost-Experten kaum noch durch. Denn neben der Terrormiliz Islamischer Staat agieren noch weitere Rebellengruppen, die ihre eigenen Ziele verfolgen. Überflüssig zu erwähnen, dass auch diese Gruppierungen nicht an einem Strang ziehen und sich bekämpfen. Noch verworrener wird die Lage dadurch, dass diverse Rebellenorganisationen von westlichen Mächten unterstützt werden. Doch gerade nach den jüngsten Erfolgen der syrischen Regierungstruppen besteht für Baschar al-Assad eigentlich kein Anlass, in Verhandlungen mit den diversen Rebellentruppen oder deren westlichen Unterstützern zu treten.

Von einigen Historikern wird zuweilen darauf hingewiesen, dass es nicht zuletzt an Großbritannien und Frankreich liegt, dass der Nahe Osten seit dem Ersten Weltkrieg nicht mehr zur Ruhe kommt. Schon vor dem Verhandlungsangebot des Dezembers 1916 hatten die beiden Großmächte ihre Interessen und Territorien in der Region in einem Geheimabkommen abgesteckt. Im Sykes-Picot-Abkommen vom 16. Mai 1916 verständigten sich die britische und französische Kolonialmacht auf eine Aufteilung des Nahen und Mittleren Ostens. Dabei nahmen sie weder Rücksicht auf ethnische noch religiöse Strukturen der dortigen Völker. Es ist daher nicht unbegründet zu sagen, dass die Saat des immer noch blühenden Hasses in diesem Erdteil vor 100 Jahren ausgestreut wurde.

Was wäre der Welt erspart geblieben, hätten sich die Kriegsparteien 1916 zu einer friedlichen Beendigung des Ersten Weltkrieges durchgerungen? Millionen weitere Verluste wären verhindert worden. Möglicherweise wäre die Oktoberrevolution in Russland ausgeblieben, denn es hätte eine neue Einigkeit gegen den Bolschewismus gegeben, ja, eine Sowjetunion hätte es möglicherweise auch nicht gegeben. Im Fall eines Friedens ohne Demütigungen und Grenzverschiebungen, wie er 1919 in Versailles geschlossen wurde, wäre es wohl kaum zu einem nationalsozialistischen Deutschland gekommen. Ohne den Versailler Vertrag wäre eine wesentliche politische Grundlage der Nationalsozialisten gar nicht existent gewesen.

Die starre Haltung der Entente hatte also nicht nur unmittelbare Folgen für das Weltgeschehen. Ihre Auswirkungen sind nicht nur im gegenwärtigen Syrienkrieg manifest. Auch der „klassische“ Nahost-Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern bekam einen wesentlichen Impuls, vielleicht erst seine Grundlage durch das doppelte Spiel, das die Diplomaten Frankreichs und Großbritanniens vor 100 Jahren betrieben.