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Jogi und sein Fußball-Idyll

Ein Premiumprodukt wird hier gepflegt: der deutsche Fußball. Was nach einem Luxushotel mit exzellenter Bewachung oder, je nach Sichtweise, wie die zurückgekehrte Schwarzwaldklinik wirkt, dürfte bald ein Reiseziel vieler deutscher Fußballfans werden. Denn die französische Südseite des Genfer Sees ist hierzulande weit weniger bekannt als ihr nördliches, schweizerisches Pendant.

BÖRSE am Sonntag

Ein Premiumprodukt wird hier gepflegt: der deutsche Fußball. Was nach einem Luxushotel mit exzellenter Bewachung oder, je nach Sichtweise, wie die zurückgekehrte Schwarzwaldklinik wirkt, dürfte bald einReiseziel vieler deutscher Fußballfans werden. Denn die französische Seite des Genfer Sees ist hierzulande weit weniger bekannt als ihr Pendant.

Ringsum in europa und der Welt herrscht Sorge und Entsetzen. Der Brexit lässt die Börsen einbrechen, in der Türkei wagt beschwört ein eigentlich demokratisch gewähltes Staatsoberhaupt rassistische Geister, die an den Nationalsozialismus gemahnen, die Gewalt nimmt im Mittleren Osten wie in den USA erschreckende Formen an und mit immer größerem Unwohlsein blicken die Anleger last but not least auf die Präsidentschaftswahlen im Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Wie schön ist es da, sich wie in der guten alten Zeit in ein Fußballmärchen zu versenken!

Evian, der Schauplatz für ein urdeutsches Fußball-Märchen

Wer durch Évian-les-Bains läuft, der hat das Gefühl, die französische Kleinstadt wurde nur deshalb gegründet, um der deutschen Fußball-Nationalmannschaft während der Europameisterschaft in Frankreich als Quartier zu dienen. Denn hier, direkt am Genfer See, ist es genauso, wie Teammanager Oliver Bierhoff sich das immer wünscht: entspannt, sehr ruhig und völlig gelassen. Und gleichzeitig wunderschön.

In dieser Atmosphäre, das weiß er aus Erfahrung, können sich die Spieler auf das Wesentliche, nämlich die anstehenden EM-Spiele, konzentrieren – nein fokussieren. Hier können sie trainieren, ihre Blessuren auskurieren, sich vorbereiten und trotzdem die schönen Dinge genießen. Hier „leben sie Fußball“, wie sich die Funktionäre und Trainer gerne ausdrücken.

Viel ist auch wirklich nicht los in Évian. Die Fußgängerzone bevölkern auch in den Tagen vor dem großen Turnier hauptsächlich Rentner, die hier ihren Sommer verbringen. Die meisten von ihnen kommen mit dem Schiff aus dem schweizerischen Lausanne. Eine halbe Stunde dauert die Überfahrt. Auch eine deutsche Reisegruppe hat zwei Tage in der Region verbracht, in der Hoffnung, einen ihrer großen Stars in der Stadt zu sehen.

Das ganz große Ziel, einem der berühmten Spieler für ein Autogramm oder ein Selfie nahe zu kommen, dürfte sich für die meisten nicht erfüllt haben. Denn das Vier-Sterne-Hotel, in dem „Die Mannschaft“ wohnt und zu dem ohnehin nur eine einzige Straße führt, ist hermetisch abgeriegelt. Das Trainings- und Medienzentrum ein paar hundert Meter entfernt ebenfalls.

Fast alle der 70 Mitarbeiter des EM-Stabs werden mit dem Auto hin- und herchauffiert. Oberhalb der Stadt hat sich der Deutsche Fußball-Bund (DFB) ein Areal geschaffen, in dem möglichst wenig Unvorhergesehenes stattfinden soll. So müssen sämtliche der knapp 200 im Voraus angemeldeten Journalisten gründlich kontrolliert werden, bevor ihnen Einlass gewährt wird.

Koffer werden durchsucht, Handtaschen sowieso. Wer es in den Innenraum geschafft hat, der kann durchatmen. Ob es die Angst vor dem Terror ist oder der schlichte Wunsch nach totaler Diskretion: Was die strengen Kontrollen rechtfertigt, kann und will hier niemand beantworten. Der DFB will schlichtweg wissen, mit wem er es zu tun hat. Und das sind viele.

Bierhoff übt sich in Optimismus

Teammanager Oliver Bierhoff spürt bereits eine große Entschlossenheit. „Wir sind froh, dass es losgeht", berichtet er: „Es wurde genug diskutiert und analysiert. Jetzt sind wir alle froh, wenn wir endlich zur Sache kommen können.“ Die Bilanz gibt jedenfalls Anlass zu Optimismus: In bisher fünf Spielen gegen die Ukraine ist das EM-Team ebenso noch ohne Niederlage wie in elf Auftaktspielen bei Europameisterschaften.

Um das EM-Fieber zu befeuern, wurden im Teamquartier Ermitage laut Bierhoff „an verschiedenen Stellen Fernseher aufgestellt“. Am Freitagabend schaute das Team dort gemeinsam das mühsame 2:1 des potenziellen Halbfinalgegners Frankreich gegen Rumänien. Nun beginnt die heiße Phase des Turniers, an dessen Ende Bierhoff weiter vorne in den deutschen EM-Büchern stehen will.

1996 hat er bereits mit seinem Golden Goal gegen Tschechien im Finale das bis heute letzte deutsche Endspieltor bei einer EM erzielt. Das sei „natürlich eine Ehre, auf die ich stolz bin“, sagt der 48-Jährige gerne dazu. „Aber irgendwann nach 20 Jahren reicht es dann auch. Es wird Zeit, dass wir eine neue Geschichte schreiben.“ Handelsblatt / Diana Fröhlich / sig