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Aktien > Rekordhoch naht

Die unwahrscheinlichste Rally des Jahres

(Foto: picture alliance / SVEN SIMON | Frank Hoermann / SVEN SIMON)

Auf Sicht von zwölf Monaten hat keine Aktie im Dax so stark performt wie die von Siemens Energy. Und jetzt?

Im Oktober 2023 kostete eine Siemens-Energy-Aktie 6,40 Euro. Das war gleichbedeutend mit dem tiefsten Preis seit dem Börsengang im Herbst drei Jahre zuvor. Vorausgegangen waren dem zwei Kursabstürze um mehr als 30 Prozent binnen weniger Monate. Das seitens der Investoren bei der Abspaltung von Siemens mit viel Wachstumshoffnung ausgestatte Windkraftgeschäft kriselte, mehrmals musste CEO Christian Buch die Gewinnprognose nach unten korrigieren. Die Eingliederung der spanischen Gamesa wurde zum Fiasko, als bei deren Windturbinen gravierende Qualitätsmängel auffielen. Zum Ende des Geschäftsjahres am 30. September stand ein Rekordverlust von 4,6 Milliarden Euro in den Büchern. Zudem sah sich Siemens Energy aufgrund schrumpfender Kreditwürdigkeit gezwungen, Staatshilfe zu ersuchen. Dies mündete nach wochenlangen Verhandlungen in einer 7,5 Milliarden Euro schweren Bürgschaft, über die Teile der insgesamt zwölf Milliarden Euro schweren Garantielinien verschiedener Banken abgesichert wurden.

Wer diese Misere damals als Kaufchance interpretierte, der muss mindestens mutig gewesen sein. Manche hätte vielleicht auch von verrückt gesprochen. Milliardenverluste, Qualitätsmängeln, staatliche Garantien, da heißt es an der Börse normalerweise: nehme Reißaus, wer kann.  

So war es auch zunächst passiert, doch dann setzte die Aktie urplötzlich zur v-förmigen Erholung an. Keine Bodenbildung, keine Seitwärtsbewegung, sondern ein steiler Kursanstieg begann – und hörte nicht mehr auf. Heute kosten Siemens-Energy Papiere wieder deutlich über 30 Euro, das Rekordhoch bei 34,80 Euro ist in greifbare Nähe gerückt. Ausgehend vom Rekordtief ist das mehr als eine Verfünffachung. Aber auch wer nicht am tiefsten Punkt eingestiegen war, was selten jemandem gelingt, hätte auf Sicht von zwölf Monaten ein Plus von über 160 Prozent bejubelt.

Siemens Energy-Aktie

Es ist so etwas wie die unwahrscheinlichste Rally des Jahres. Seit dem 1. Januar hat sich der Kurs der Siemens-Energy-Aktie fast verdreifacht. Da kann im Dax niemand mithalten, nicht einmal annähernd. Und so richtig erklären, kann es sich niemand. Unter den Analysten, die die Aktie covern, raten drei zum Kauf, vier zum Halten, zwei zum Verkauf. Das durchschnittliche Kursziel liegt bei 24,60 Euro – und damit weit unter dem aktuellen Kurs. Das Kursziel von JPMorgan-Experte Akash Gupta liegt gerade mal bei 13 Euro. Die schwache Bilanz sowie die Risiken bei Gamesa machten ihm Sorgen, urteilte er in einer Studie. Auch wenn Berenberg und die Deutsche Bank mit 35 und 31 Euro optimistischer sind, spektakuläre Kaufempfehlungen sehen anders aus.

Womöglich ist es ein Mix aus Charttechnik und Nachzügler-Käufen, die die Rally derart in Gang gesetzt haben. Wer den Kurssturz mitgemacht hat, der nutzte in den vergangenen Monaten vielleicht die Chance günstiger, als zum ursprünglichen Einstiegspreis, nachzukaufen. So lassen sich Verluste eingrenzen. Gleichzeitig dürften die Aussichten auf und zuletzt die tatsächlichen Zinssenkungen, die Erholung unterstützt haben. Und natürlich legte Siemens Energy in den jüngsten Quartalen auch bessere Zahlen vor. Anfang August erhöhte der Konzern zum zweiten Mal innerhalb von drei Monaten die Prognose für den Free Cashflow. Darüber hinaus konnte Gamesa die Verluste mit einem Minus von 463 Millionen Euro immerhin spürbar reduzieren. Im Jahr zuvor hatten sie fünfmal höher gelegen. Wirklich überzeugend wirkt das aber noch nicht. Ganz im Gegenteil zu den anderen Sektoren des Konzerns, der Netztechnik und den Gas Services. Es waren diese beide Sparten, die den Konzernumsatz um 18,5 Prozent auf 8,8 Milliarden Euro ansteigen und den Auftragsbestand auf 120 Milliarden Euro klettern ließen. Alles in allem stand im dritten Quartal ein operativer Gewinn von 49 Millionen Euro zu Buche, netto blieb ein Verlust von 102 Millionen Euro. Im Gegensatz zu drei Milliarden Euro im Vorjahreszeitraum natürlich eine deutliche Steigerung, aber immer noch ein Verlust. Dafür ist eine Verdreifachung des Aktienkurses ein Wort.

Ist es jetzt entsprechend Zeit, Gewinne mitzunehmen? „Alle mal eine Überlegung wert“, urteilt Lynxbroker-Experte Ronald Gehrt und nimmt dabei auch Bezug auf die durchwachsenen Analystenschätzungen. Gleichwohl sieht Vorstandschef Bruch seinen Konzern „auf einem guten Weg“ die Jahresprognose zu erfüllen, die da lautet: Ein Milliarde Euro Nettogewinn. Entsprechend darf wohl hinterfragt werden, inwieweit das JPMorgan-Kursziel noch Gewicht hat, das auf der Annahme beruht, dass Siemens Energy erst 2026 die Gewinnschwelle erreicht. Nach den ersten neun Monaten des Geschäftsjahres liegt der Siemens Energy-Gewinn bei 1,6 Milliarden Euro. Es müsste nun schon einiges schief gehen, dass, trotz anzunehmender Verluste im Schlussquartal, die konzerneigene Prognose noch verfehlt wird.

Trotzdem: Das erwarte KGV für 2024 liegt aktuell bei 64. Langfristig orientiere Anleger sollten zumindest einmal hinterfragen, inwieweit hier aktuell Trader, die den positiven Indikatoren im Chart folgen, ihre Finger im Spiel haben. Für den Moment jedenfalls ist es aus fundamentaler Sicht schwer vorstellbar, dass die Aktie noch viel Luft nach oben hat. Schwer vorstellbar war für viele allerdings wohl auch eine Verdreifachung des Aktienkurses in diesem Jahr.

 

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