Siemens im Sturm
Nach dem spektakulären Machtkampf an der Spitze hat der Siemens-Konzern eine neue Führung / Die Probleme des Konzerns sind gewaltig, die Substanz aber auch / Analysten uneins / Herabstufung durch Fitch / Crommes Abgang wird erhofft<br /><br />An der Börse ist der Führungswechsel bei Siemens erst einmal gut angekommen. Die Aktie startet mit Kursen von unter 80 Euro in die Woche der Wahrheit, und sie ging mit Werten von knapp 84 Euro ins Wochenende. “Das Drama war groß, die Erleichterung ist da”, kommentierte ein Händler in Frankfurt den Chefwechsel und sagte damit, was die meisten Investoren dachten. <br />Die "unwürdige Posse vor den Augen der Welt" sei nicht im Interesse der Anteilseigner gewesen, beanstanden hingegen die Aktionärsschützer der Deutschen Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz. Die DSW will das Thema bei der nächsten Hauptversammlung auf die Agenda setzen und dabei auch die Rolle des Aufsichtsrats klären. Ein Dorn im Auge bleibt vielen – nicht nur der DSW - der Aufsichtsratschef Gerhard Cromme. Er habe Loescher einst selbst geholt, er trage die Mitverantwortung für manche strategische Fehlentscheidung, er verfolge persönliche Interessen und er habe den Führungswechsel auch noch katastrophal gemanagt. Fast alle Leitmedien, aber auch einige Großinvestoren halten den schwelenden Konflikt im Aufsichtsrat um den bereits bei Thyssen umstrittenen und letztlich dort hinaus komplimentierten Cromme für eine zu schwere Hypothek. „Cromme muss gehen. Nur dann kann sich Siemens erfolgreich neu erfinden", hieß es im Kreis Frankfurter Fondsgesellschaften.<br />Die Wahl des bisherigen Finanzvorstands Joe Kaeser zum neuen Vorstandsvorsitzenden löst unter Anlegern und Analysten zwar keine Begeisterung aus, aber man empfindet die Wahl weithin als vernünftig. Kaeser werde wieder Ruhe in das Unternehmen bringen, er kenne das Haus bestens und wisse als gelernter Finanzvorstand, was die Märkte nun erwarten. Die Chance für einen guten Neuanfang sei also da.
Hochfliegende Erwartungen bei einigen Auguren
Die Analysten von RBC Capital Markets meinen, dass Kaeser trotz aller Beschwichtigungen weiter die Rendite im Auge halten werde. „Kaesers Ernennung beseitigt eine gewisse Unsicherheit. Er tritt sofort an und wir rechnen nicht damit, dass er sich komplett von den Margenziele für 2014 abwendet, da er zur Zeit der Prognose schon Finanzchef war.“ Auch die Société Générale gibt sich wohlwollend:„Innerhalb des Vorstands war er wahrscheinlich der beste Kandidat für die Rolle. Er ist anerkannt für seine Erfolge bei Portfoliobereinigung und dem Sparprogramm“.
Die Analysten der Deutschen Bank stufen die Aktien von Siemens sogar auf „Kaufen“ hoch. Das Kursziel wurde von 75,00 Euro auf 95,00 Euro erhöht. Die Deutsche Bank sieht den Wechsel des Vorstandsvorsitzenden als einen guten Schritt: Für Siemens sei es an der Zeit, offene Baustellen zu schließen. Der Konzern ist nach Einschätzung der Analysten noch immer zu wachstumsorientiert und breit aufgestellt, auch wenn er in den letzten zehn Jahren fokussierter und profitabler geworden sei. Von dem neuen Vorstandsvorsitzenden Joe Kaeser erwarten die Experten der Deutschen Bank eine stärkere Fokussierung auf das Wesentliche. Eine wichtige Aufgabe sehen sie zudem in einer Verringerung der Störanfälligkeit des Konzerns. Aufgrund der vielen Negativmeldungen der letzten Monate sei das Kursrisiko derzeit gering. Ein höheres Kursziel sei möglich, falls Siemens noch profitabler wird oder wertsteigernde Anpassungen des Portfolios vorgenommen werden.
Skeptische Zwischentöne
Doch es mischen sich auch spektische Töne in die Gemengelage. Kaeser sei für alle bisher getroffenen Entscheidungen mitverantwortlich. Ihm fehle Charisma und strategische Durchsetzungskraft. Er sei ein guter Zahlenmann, aber kein echter Kapitän. Außerdem habe Kaeser gleich am Mittwoch zu seinem Amtsantritt erklärt, es gehe ihm vor allem um die Beruhigung des von immer neuen Sparrunden verschreckten Konzerns. Renditen und neue Umbauprogramme hätten keine Priorität.
Das klingt nicht gut für Aktionäre, zumal die Ratingagentur Fitch Siemens in ihrer Bonitätsbewertung herabgestuft hat. Die Experten benoten den Konzern künftig mit „A“ statt wie bisher mit „A+“, wie sie am Freitag mitteilten. Fitch äußerte sich unzufrieden mit der Renditeentwicklung und dem Fortgang des Sparprogramms der Münchner. Kaeser steht damit schon in seiner ersten Arbeitswoche gehörig unter Druck.
Der Kapitalmarkt hält reichlich wenig von der der Forderung der Arbeitnehmervertreter, dass bei Siemens künftig der „Mensch vor Marge“ gehen müsse. Kaeser wird aus Sicht der Börse vielmehr die verwöhnten Siemensianer zu einem durchgreifenden und nachhaltig profitablen Konzernumbau treiben müssen. Siemens muss schneller, fokussierter, flexibler und zuverlässiger werden, um den Rückstand bei Profitabilität und Wachstum im Vergleich zur Konkurrenz aufzuholen. Wichtige Konkurrenten wie General Electric wuchsen zuletzt oft schneller, auch weil sie akquisitionsfreudiger waren. Organisch sind kurzfristig bei Siemens keine Wachstumssprünge zu erwarten: Der Auftragseingang, Indikator für die Umsätze von morgen, sank im vergangenen Geschäftsjahr sogar um 13 Prozent auf knapp 77 Milliarden Euro.
Kurzum: Kaeser hat in dieser Woche Vorschusslorbeeren von den Märkten bekommen. Er wird aber keine Flitterwochen haben und braucht ein paar schnelle Siege, um Investoren wirklich zu überzeugen. Der Sektor Energietechnik – einst der Stolz des Konzerns – wird ihm den meisten Kummer bereiten. Siemens verpatzte den rechtzeitigen Anschluss von Windparks in der Nordsee und musste eine halbe Milliarde Euro Strafe zahlen. Zudem drückt verstärkt asiatische Konkurrenz auf den Markt für Transformatoren. Siemens reagierte auf den wachsenden Preisdruck mit dem Abbau Tausender Stellen.
Viele Baustellen bleiben
Der Ausflug in die Solarenergie-Technik erwies sich für die Münchner sogar als richtig teurer Flop. Mit dem Kauf der israelischen Solel für 418 Millionen Dollar und dem Erwerb von Anteilen an der italienischen Archimede wollte Siemens bei der solarthermischen Stromerzeugung mitmischen. Der Markt etablierte sich nie, Solel machte mehr Verlust als Umsatz. Beide Abenteuer hat man inzwischen beendet.
Ein ähnliches Schicksal wie die Sortieranlagen-Sparte trifft auch die Wasseraufbereitungstechnik. Als Ausrüster von Wasserwerken setzt Siemens zwar rund eine Milliarde Euro um, unter dem Strich bleibt allerdings nur ein einstelliger Millionenbetrag hängen. Die Einheit soll verkauft werden.
Insgesamt ist die Löscher-Strategie, aus Siemens einen Öko-Konzern mit vorwiegend grünem Geschäft zu schmieden, nicht wirklich überzeugend aufgegangen. Prächtig läuft das Medizingeschäft, die Öko-Deals aber schwächeln immer wieder. Siemens sieht sich zwar als Weltmarktführer bei Umwelttechnologien, und seit dem Geschäftsjahr 2007 ist der Umsatz des Umweltportfolios im Schnitt um 14 Prozent pro Jahr auf zuletzt gut 33,2 Milliarden Euro gestiegen. Das sind 42 Prozent des Konzernumsatzes. Doch es häufen sich genau dort auch die grünen Probleme, von schlechten Windrädern bis zum katastrophalen Solargeschäft. Probleme mit Großprojekten gelten mittlerweile sogar als typische Siemens-Krankheit, wo die Marke einst doch für deutsche Ingenieurskunst und Qualität stand. Die Probleme bei der Anbindung der Offshore-Windparks an das Stromnetz sind besonders ärgerlich und belasten den Konzern bislang mit 570 Millionen Euro. Die Verzögerungen im finnischen Atomkraftwerk Olkiluoto kosten ebenfalls viel Geld. Und die verspätete Auslieferung der neuen ICE-Generation könnte für Siemens bis zu 100 Millionen Euro teuer werden.
Obendrein ist auch die Bilanzstruktur längst nicht mehr so stark wie einst. Die Finanzschulden sind zum Ende des Geschäftsjahres 2011/12 im Vorjahresvergleich weiter gestiegen. So lag die Nettoverschuldung zum 30. September 2012 bei 9,3 Milliarden Euro, 4,3 Milliarden über dem Vorjahr. Im Verhältnis zum Eigenkapital macht diese nun etwa 30 Prozent aus. Und nicht einmal aus dem Börsengang der Osram-Tochter hat der Konzern groß Kapital schlagen können. Siemens verschenkt die große Mehrheit seiner Leuchtmittel-Tochter an die eigenen Aktionäre. Gut 80 Prozent sollen die Eigentümer behalten, der Rest bleibt bei der Mutter und deren Pensionsfonds. Siemens will in das Lampengeschäft nicht mehr investieren, Osram steckt immer noch in der Sanierung.
Bankanalysten bleiben vorsichtig
Auch aus diesen Gründen hat die US-Bank JPMorgan die Einstufung von Siemens auf „Neutral“ belassen. Die hohen Markterwartungen an den neuen Unternehmenschef Joe Kaeser beinhalteten ein kurzfristiges Aufwertungspotenzial für die Aktie, schreibt das Institut. Damit sie ein langfristig attraktives Investment werde, müsse sie aber noch günstiger werden oder der Elektrokonzern eine nachhaltig bessere Geschäftsentwicklung zeigen.
Die US-Bank Citigroup hält die Siemens-Aktie trotzdem für einen Kauf. Unter Joe Kaeser könnte der Konzern die Umstrukturierung seines Portfolios beschleunigen, da diesem die reine Größe des Konzerns weniger wichtig sein dürfte als einigen seiner Vorgänger. Kaeser dürfte sich zudem nach dem Rückgang in den vergangenen Jahren auf die Bruttomargen konzentrieren. Weiteres Aufwärtspotenzial ergebe sich zudem aus einer besseren wirtschaftlichen Entwicklung in Europa, wo der Konzern 45 Prozent seiner Umsätze erziele.
Auch die NordLB hat das Kursziel für Siemens nach dem Führungswechsel von 76 auf 85 Euro angehoben, die Einstufung aber auf "Halten" belassen. Mit dem nun vollzogenen Führungswechsel ist nach den Unruhen der vergangenen Tage ein erster wichtiger Schritt zur Beruhigung getan. Der Ausnahmezustand sei beendet. Trotz der derzeit eher schwachen Zahlen sei der Konzern bilanziell und substantiell stark.
Die ambivalente Situation zeigt auch das aktuelle Quartalsergebnis. Einerseits hat Siemens im vergangenen Quartal weniger Umsatz und operativen Gewinn gemacht als im Vorjahreszeitraum. Andererseits legten die Aufträge von April bis Juni kräftig zu. Gerade das Zuggeschäft sorgte mit einem drei Milliarden Euro schweren Auftrag aus England allerdings dafür, dass der Auftragseingang des Konzerns um ein Fünftel auf 21,1 Milliarden Euro kletterte.
Unter dem Strich verbuchte Siemens ein Gewinnplus von 43 Prozent auf 1,1 Milliarden Euro - allerdings waren dafür die Erträge aus den Verkäufen der Tochterunternehmen Nokia Siemens Networks (NSN) und Osram verantwortlich. Siemens zufolge schrumpfte der Umsatz im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um zwei Prozent auf knapp 19,3 Milliarden Euro. Der operative Gewinn sank um 13 Prozent auf eine Milliarde Euro. Das Umbauprogramm kostete in der Zeit zwischen April und Ende Juni 436 Millionen Euro. Zudem muss Siemens 91 Millionen Euro für die Probleme bei Rotorblättern seiner Windkraftanlagen als Belastung verbuchen. Im Gesamtjahr will Siemens weiterhin einen Gewinn von vier Milliarden Euro erwirtschaften.
Fazit: Der Konzern ist immer noch ertragsstark und solide. Er hat allerdings Margen und Amrktanteile verloren und einige Baustellen, über die nun ein Vorstandsvorsitzender gestolpert ist. Die Aktie könnte sich bei einer anziehenden Konjunktur in Europa und gezielten Sanierungs- oder Portfolio-Entscheidungen des neuen Chefs neu beleben. Joe Kaeser weiß, was Investoren wollen. Jetzt ist es an ihm, zu liefern.