Aufregung ist gut für den Kreislauf
Was für ein Skandal! Und da: Schon wieder einer! Es hört gar nicht mehr auf, möchte man meinen. Ständig ist etwas los.

Was für ein Skandal! Und da: Schon wieder einer! Es hört gar nicht mehr auf, möchte man meinen. Ständig ist etwas los.
Wer das meint, hat wohl recht. Fällt es nur in letzter Zeit so auf oder war das schon länger im Anmarsch? Gemeint ist die tägliche Aufregung, die Sau, die inzwischen rudelweise durchs Dorf getrieben wird, die Schlagzahl der Meinungsäußerungen, die ja grundgesetzlich geschützt sind. Wobei implizit, das wissen die Verfassungsrechtler, das Grundgesetz auch die negative Meinungsfreiheit im mächtigen Felsen der Grundrechte verankert hat. Das ist das Recht, keine Meinung zu haben und, es geht noch weiter, keine Äußerungen zur Kenntnis zu nehmen. Dieses letztere Recht wird derzeit ausgehöhlt, dass es nur so eine Art hat. Sagt beispielsweise ein Politiker etwas, was er nicht schon dutzendfach zuvor gesagt hat (kommt vor), so ist das mindestens eine Online-Schlagzeile wert. Frau Dr. Schavan hat nun nur noch ihre vier Ehrendoktoren? Wartet nur, sie kommt ja aus dem Ausland heim, da soll sie was erleben. Das Dschungelcamp im Feuilleton, das Schicksal einzelner Teilnehmer ausgebreitet; und Peer Steinbrücks Leute müssen seinen Blog schließen, wegen feindseliger Hacker. Die finden Meinungsfreiheit uncool, wie man sieht. Neumodisch wäre zu fragen: Geht’s noch?
Es gibt das Internet nicht erst seit gestern, auch soziale Netzwerke gab es schon vor Jahren, es gab „Second Life“ und düstere Warnungen davor und es gab Ballerspiele und Spiegel Online, man hat sich dran gewöhnt. Dennoch scheint es eine neue Qualität anzunehmen. Der hessische Justizminister Hahn (FDP) fragt sich, ob sein Parteichef womöglich ein Handicap habe, weil er asiatisch aussieht (ist er’s vielleicht gar?), denn Hahn kennt seine Pappenheimer von der deutschen Gesellschaft, die möglicherweise noch nicht so weit ist. Der Gedanke, den er gut für sich hätte behalten können, wird gedreht, gewendet, getwittert und re-getweetet und geliked oder nicht. Er wird vom Urheber präzisiert, vom Angesprochenen als nicht schlimm bezeichnet, re-getweetet und so weiter. Vermutlich gibt es längst eine facebook-Gruppe dazu und einen Blog namens Hahnplag.de. Plag wie Plage. Während der frühen Morgenstunden des Freitags ringen oder boxen die EU-Gipfelteilnehmer um einen Haushaltskompromiss. Wer hat da Zeit zum Twittern? Van Rompuy natürlich, der Ratspräsident: Man arbeite an einem Deal, schreibt er da. Das ist aber eine Überraschung. News vom Feinsten. Aus erster Hand. Allerdings: Sollte der Oberdealer da nicht lieber bei der Sache sein?
Es wird natürlich nichts nützen, wollte man über solche Auswüchse lamentieren. Vielleicht wissen die Politiker ja auch besser als unsereiner, was sie tun. Sich an Jungwähler heranschleimen vielleicht? Jedenfalls kommt der Punkt, an dem das ganze Heulen und Klappern einmal zu viel sein wird. Die Menschen denken heute schneller als vor Jahren (nicht besser), sehen schneller und können toll tippen und hören und so tun, als seien sie bei der Sache, alles gleichzeitig, man sieht es in jeder Konferenz und Kaffeepause sowieso. Aber es könnte eine natürliche Grenze geben und man ist gespannt, wo die ist. Die Gegenbewegung könnte auch noch kommen, die wird dann völlig utopisch-exotische Forderungen aufstellen, zuerst vielleicht die: Lasst uns doch mal einfach einen Moment in Ruhe.