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Austerität? Von wegen!

Die Gewerkschaftsdemonstrationen zum 1. Mai hatten von Lissabon bis Athen ein großes Thema: Merkels „Spardiktat“, die eiserne „Austeritätspolitik“, germanisches „Kaputtsparen“. In Europa wird so getan, als unterwerfe man sich deutschem Druck und einer brutalen Sparpolitik. Die Wahrheit zeigt das ganze Gegenteil. Die Schuldenberge wachsen munter weiter.

BÖRSE am Sonntag

Ausgerechnet Merkels Mann in der EU, José Manuel Barroso, verkündet nun, was viele Südeuropäer denken: Genug gespart! Für die Austeritätspolitik schwinde die gesellschaftliche Unterstützung, die sie benötige, um erfolgreich zu sein – dialektisch und im Tonfall des Therapeuten erklärt der EU-Kommissionspräsident seinen plötzlichen Kurswechsel. Barrosos Wenderede und ihr begeistertes Echo im Süden ist in etwa so, als würde eine Gruppe Komasäufer jubeln, weil ihr Klassenlehrer erklärt, Abstinenz sei halt nicht vermittelbar.

Der Vorgang ist schon deshalb grotesk, weil die Staaten Europas in Wahrheit ihre Schuldenabstinenz noch nicht einmal begonnen haben. Die politische Klasse schwadroniert zwar gerne über Sparprogramme. Tatsächlich aber spart niemand. Das europäische Statistikamt hat den Diätplauderern nun die Waage vorgehalten. Danach haben die 17 Länder der Eurozone allein im vergangenen Jahr 375 Mrd. Euro neue Schulden gemacht. Neue! In den 27 EU-Ländern waren es sogar 576 Mrd. Euro. Der Schuldenberg der EU-Länder ist auf gut 11 Bio. Euro gestiegen.

Die gefühlte Sparpolitik und die tatsächliche Schuldenmacherei fallen eklatant auseinander. Nicht weniger als 17 Staaten verstießen 2012 gegen die Stabilitätsvorgaben von Maastricht – allen voran Spanien. Dort lag die Neuverschuldung bei hanebüchenen 10,6% des Bruttoinlandsprodukts. In Griechenland erreichte die Neuverschuldung 10%, in Irland waren es 7,6%, in Portugal 6,4%. Selbst in Frankreich, nach Deutschland die zweitgrößte Volkswirtschaft der Eurozone, badet in frischen Krediten. Dort lag das neue Defizit bei 4,8% des Bruttoinlandsprodukts.

Die Schuldenbremsen-Strategie bleibt bislang reine Rhetorik. Ende 2012 entsprachen die aufgelaufenen Schulden 85,3% des EU-Bruttoinlandprodukts – nach 82,5% im Jahr zuvor. Anstatt endlich Staatsausgaben und Einnahmen in halbwegs seriöse Verhältnisse zu bringen, sucht die Politik lieber nach Sündenböcken – von Banken über Deutschland bis zu Steuersündern.

Wenn also das, was Europa in dieser Schuldenkrise bislang abliefert, Austerität ist, dann kann man Trunkenheit auch Abstinenz nennen. Außer Deutschland hat kein einziges Land auch nur ausgeglichene Einzeletats – vom dringend nötigen Abbau des Schuldenbergs gar nicht zu reden. Europa steigt immer weiter hinauf ins gefährliche Schuldengebirge. Dabei müsste es aus dem Massiv dringend absteigen, um nicht abzustürzen. Das ist mühsam, langwierig und manchmal auch riskant. Aber es ist unabdingbar. Austeritäts-Selbstlügen helfen so wenig wie fortgesetztes Kreditkomasaufen.