Satt kritisiert
Was tut der Gesättigte, wenn es ihm zu wohl wird? Na klar, er findet neue Perfiditäten beim Kapitalismus, Neoliberalismus oder bei der grassierenden Ungleicherwerdung der Deutschen, materiell betrachtet. Fast scheint es, als habe man hierzulande, zumindest wenn man sich eher links einordnet, eine Art natur- und grundgesetzlich verbrieften Anspruch auf Utopie-Wahrmachung und das Recht, immer und überall enttäuscht zu sein.
Dabei hat keine Institution der Welt je die komplette Gleichheit des Menschen in jeder Hinsicht versprochen, wohl wissend, dass die Erreichung dieses Ziels den völligen Horror bedeuten würde – eine Einsicht, die auch hochdekorierte Denker der Republik nicht haben. Vielleicht wird das ständige Lamentieren auch dadurch befördert, dass der Glaube an die jenseitige Gerechtigkeit schwindet – damit konnten die Weltreligionen lange dafür sorgen, dass man hiesige Verwerfungen, wenn nicht leichter, so doch klagloser ertrug. Möglicherweise war es ein Fehler, dass alle sich irgendwann einmal daran gemacht haben, das irdische Los der Menschheit zu verbessern, indem man daran glaubte, dass Fortschritt plus Wettbewerb plus soziales Denken etwas ausrichten könnten gegen Leibeigenschaft, Hungersnöte und Seuchen, und dass Wohlstand für alle doch immerhin als Ansporn und Zielvorstellung eine gute Politik sein könnte. Liest man die Einlassungen der Geisteselite im Lande und nimmt noch die etwas weniger von Denkfähigkeit geprägten Äußerungen gewisser Gewerkschafter und populärer Antikapitalisten hinzu, dann ist die Verelendung der Massen nicht nur unvermeidlich, sondern im Herzen der Republik auch kalt geplant. Im Klassenkampf darf es keinen Waffenstillstand geben und die Hydra der Gier hebt erstaunlicherweise ihre Köpfe immer da, wo man sie braucht. Da ist mit nackten und nüchternen Erkenntnissen naturgemäß wenig zu machen. Der Verweis darauf, dass nach unserer bundesdeutschen Rechnungslegung theoretisch einer auch dann als arm gelten könnte, wenn er Millionär wäre – vorausgesetzt, es gibt genug Milliardäre in der Statistik – führt nicht etwa zur Hinterfragung der statistischen Methoden, sondern zur Schmähung der Milliardäre. Das Gut-böse-Schema einfacher Denkungsart, wie man es von Linkspartei und hauptberuflichen Funktionärskadern kennt und als bunte Folklore vielleicht nicht missen möchte, erobert aber leider den Mainstream. Das Fatale daran: Der echte Umverteiler muss sich um immer groteskere geistige Verrenkungen bemühen, um überhaupt noch aufzufallen in der Gerechtigkeitskakofonie („100% Steuerbelastung ab Einkommen 500.000 Euro im Jahr“). Das Steueraufkommen wäre gleich null, aber egal: Wer bietet mehr?
Die herrschende Diskussion hat, neben dem verblüffenden Mangel an Logik auch in besseren Denkerkreisen, mindestens zwei gravierende Folgen, die im Getöse untergehen. Zum einen wird das zutiefst menschliche Streben nach Besserung sowohl der Verhältnisse als auch des Selbst komplett unterwandert zugunsten des Hasses auf die vermeintlichen Ausbeuter: Es geht nicht darum, Chancen zum Aufstieg zu schaffen, sondern jene, die „da oben“ sind, möglichst herunterzustürzen. Daraus folgt ein Zweites: Indem man anonyme Mächte und finstere Finanzmarktverschwörer zu bekämpfen vorgibt, bedient man sich erprobter Mittel sattsam bekannter Ideologien und Diktaturen: Welche Art von Paradies allerdings die Vorhut des Antikapitalismus für uns vorgesehen hat, wenn der letzte reiche Feind dereinst beseitigt sein wird, sagt man uns wohlweislich nicht. Darf man trotzdem schon mal verzichten, bitte?