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Teuer ist unbillig

Die Inflation, die man fürchtet, ist fast so schlimm wie jene, die man schon hat. Es ist nämlich ein eigenartig Ding um das menschliche Empfinden: Es will so gar nicht rational angepasst daherkommen. Bei manchen Sachen im Leben widersprechen Erfahrung, Erwartung und Gefühl der Realität in einem erstaunlichen Maße, bestimmen es aber sogar: Wenn einem früher mal schlecht wurde, war der Brunnen wohl vergiftet worden, was auch sonst? Wer Viren nicht kannte und Übertragungswege, der kam ganz schnell auf fahrendes Volk, Juden, Hexen oder sonstige Hassprojektionen. Mit der Verfolgung jener Gruppen wurde zwar das Leiden nicht besser, aber das Gefühl der Gerechtigkeit stellte sich ein.

BÖRSE am Sonntag

Um Leib und Leben geht es heute in Mitteleuropa eher selten, und wenn, dann zumindest nicht in einer Anwandlung von Selbstjustiz. Aber fatale Entscheidungen treffen stimmungsgetriebene Menschen weiterhin mit Leidenschaft. Auf dem weiten Feld des Umgangs mit Geld hat sich schon mancher völlig ruiniert, trotz ausreichender Versorgung mit reinem Brunnenwasser, der seine Bauch-Kopf-Trennung nicht umfassend im Griff hatte. So gehen dann ganze Reiche verloren. Im heutigen Deutschland fürchtet man nichts so sehr wie ein Gespenst von vorgestern: die Inflation. Geldentwertung bringt die hiesigen Gefühle in Wallung. Auch wenn niemand abgesehen von rüstigen Über-Hundertjährigen noch Erinnerung an Schubkarren voller Scheine mit dem Gegenwert zweier Brötchen hat – das kollektive Gedächtnis ist wach. Es lenkt, ob man will oder nicht, die Geschicke bis heute, und inzwischen  sogar die halb Europas. Schon die Preisstabilitätsorientierung der Bundesbank ließ Europa ehedem hin und wieder aufstöhnen. Der Glaubenssatz „Sozis können nicht mit Geld umgehen“ beeinflusste das Wahlverhalten der Bürger bis in die 70er-Jahre hinein. Und die Einführung des Euro ließ sogleich das Wort vom Teuro aufkommen – bis heute nicht eine Sekunde lang zu Recht. Die Brunnenvergifter also gibt es nicht, aber dennoch hat die Furcht auch ihr Gutes: Das Bestehen auf dem Geldwert ist, vermutlich unabsichtlich, ein durchgreifendes Rezept für soziale Balance. Wenn hierzulande das Statistische Bundesamt, so wie morgen wieder, seine Daten auf den Tisch legt, wird jeweils klar, wie sehr Preissteigerungen und -stabilität gerade da zu Buche schlagen, wo der sogenannte kleine Mann betroffen ist: Energie, Lebensmittel, Kleidung. Dass die in Deutschland vergleichsweise günstigen Lebensmittelpreise auch den unterdurchschnittlich Verdienenden noch Spielräume eröffnen, wer wollte das beklagen? Verwunderlich eher, dass Sensibilität dafür in anderen europäischen Ländern nicht vorhanden ist. Dort geht die Stimmung dann in eine andere Richtung: Wenn alles teuerer wird, ist das unbillig, heißt es, und per Streik wird der Verlust wieder hereingeholt, und wenn es kracht. Fatal für Randgruppen, die keine Lohnsteigerungen aushandeln können. So gesehen geht es hierzulande gemäßigter zu. Die Furcht vor der Geldentwertung allerdings macht Deutsche tendenziell zur leichten Beute für Krisengewinnler: Man flüchtet in vermeintlich sichere Häfen und verliert zuerst den Überblick, und dann sein Geld. Angst ist ein schlechter Ratgeber, dessen Kosten aber inflationär steigen, wenn es Zeit dafür ist.