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Wirtschaft und Börsen unter Pandemie-Schock: Ein Überblick für Anleger

Das Coronavirus breitet sich weltweit weiter aus. Die Einschränkungen auf das öffentliche Leben zur Eindämmung der Ausbreitung treffen die Wirtschaft hart. Ein Einbruch der Wirtschaftsleistung in einer auf das Jahr hochgerechneten Rate um bis 30 % scheint derzeit möglich. Ein Blick auf die Konsequenzen, Herausforderungen und Chancen für Anleger.

(Foto: Shutterstock)

Das Coronavirus breitet sich weltweit weiter aus. Die Einschränkungen auf das öffentliche Leben zur Eindämmung der Ausbreitung treffen die Wirtschaft hart. Ein Einbruch der Wirtschaftsleistung in einer auf das Jahr hochgerechneten Rate um bis 30 % scheint derzeit möglich. Ein Blick auf die Konsequenzen, Herausforderungen und Chancen für Anleger.

Eine Analyse von Bernd Hartmann, Leiter CIO-Office und Dr. Thomas Gitzel, Chefvolkswirt, VP Bank

Das Coronavirus führt zu einem Stillstand der Wirtschaft rund um den Globus. Wie tief die Einschnitte beim Bruttoinlandsprodukt (BIP) sein werden, unterliegt derzeit einer hohen Prognoseunsicherheit, dennoch wagen wir uns an eine erste Einschätzung. Während das erste Quartal zunächst gut begann, drehte sich die Situation mit dem Februar. Das heisst, das wirtschaftliche Wachstum im Januar und zum Teil im Februar «kompensieren» die Verluste in der zweiten Quartalshälfte etwas. Für die USA schätzen wir derzeit, dass das BIP im ersten Quartal im Vergleich zum Vorquartal ein Minus von 0.2 % verbuchen wird, während es im Zeitraum von April bis Juni ein Rückgang von 7.8 % sein dürfte. Werden diese Zahlen auf das Jahr hochgerechnet, entspräche dies einem Einbruch von rund 30 %. Wie sehr das Wachstum leiden kann, zeigt das Beispiel Singapur. Der Stadtstaat, dessen Wirtschaft sehr stark vom internationalen Handel abhängt, verbuchte bereits von Januar bis März einen Rückgang des BIP von 10.6 % gegenüber dem vierten Quartal 2019. Da das Coronavirus sich bereits zu Jahresbeginn in Asien rasant ausbreitete, waren dort die wirtschaftlichen Folgen auch früher spürbar.

Die von uns erwartete wirtschaftliche Entwicklung in den USA lässt sich mit gewissen Zu- oder Abschlägen fast beliebig auf andere Volkswirtschaften übertragen. In der Eurozone wird der BIP-Rückgang bereits im ersten Quartal schärfer ausfallen, einfach weil auf dem europäischen Kontinent das Virus früher zuschlug. Im zweiten Quartal dürften die Einbussen im Vergleich zu den USA etwas geringer ausfallen. Dies liegt vor allem an den ausgeprägteren Sozialsystemen und je nach Land und Industriezweig starken Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden. Die Sozialpartner haben Erfahrung und schufen eine Reihe von Krisenmechanismen, die sich nun als stabilisierend erweisen. Dazu gehören Werksschliessungen auf Basis von Zwangsurlaub, Kurzarbeit und Arbeitszeitkonten.

Schaffen die Hilfspaket Abhilfe?

Weltweit haben Notenbanken und Regierungen auf die Krise reagiert und Hilfspakete angekündigt. Die Rettungsmassnahmen sind jedoch keine Konjunkturprogramme. Die eingeleiteten Aktionen - die US-Regierung schnürte zum Beispiel ein Paket im Wert von mehr als USD 2 Billionen - verhindern lediglich das Schlimmste, also einen Kollaps der gesamten Volkswirtschaft. Aufgrund des in geringem Umfang vorhandenen Sozialversicherungssystems in den USA bieten die öffentlichen Gelder wichtige Unterstützung für grosser Bevölkerungsschichten. Nicht nur für die USA, sondern überall zielen die staatlichen Kredit- und Garantieprogramme vor allem auf Kleinstunternehmen ab, um Liquiditätsengpässe zu verhindern. Die Milliardenhilfen sollen den Volkswirtschaften bestmöglich über die kommenden Wochen und Monate helfen. Das ist von zentraler Bedeutung. Würde es zu einer grossen Welle von Insolvenzen kommen, stünden nach Bewältigung des Coronavirus zu wenig Unternehmen bereit, um den Aufschwung zu tragen. Kurzum: Gehen zu viele Unternehmen und Betriebe jetzt pleite, kann es zu einem späteren Zeitpunkt keinen Aufschwung geben.

Kommt es zu einer raschen Erholung?

Viel entscheidender als das Ausmass des Einbruchs wird sein, wie schnell sich die globale Wirtschaft von diesem epochalen exogenen Schock erholen kann. Die Frage ist, ob der Konjunkturverlauf einem V oder einem U gleicht – oder im schlimmsten Falle sogar einem L. Letzteres würde implizieren, dass die Wirtschaft dauerhaft noch über einen langen Zeitraum hinweg nicht mehr Fuss fassen würde. Aktuell rechnen wir mit einer U-förmigen wirtschaftlichen Entwicklung, also mit einem scharfen Einbruch und einer verzögerten Erholung. In den USA, aber auch in Europa dürfte man versuchen, möglichst bald die industrielle Produktion bereits schrittweise hochzufahren. Gaststätten, Hotels oder auch sportliche und kulturelle Grossveranstaltungen dürften von dem Kontaktverbot und den entsprechenden Einschränkungen möglicherweise noch länger betroffen sein. Würden die strikten Massnahmen über Nacht gelockert werden, droht ein erneutes Anschwellen der Infiziertenzahlen. Es würde also zu einer zweiten Erkrankungswelle kommen. Aus diesem Grund erscheint uns ein V-Verlauf der Konjunktur – also dem scharfen Einbruch gefolgt von einer raschen Erholung – als unwahrscheinlich. Darüber hinaus erscheinen uns Insolvenzen als fast schon unvermeidlich. Die Hilfsprogramme der Notenbanken und Staaten dürften zwar eine grosse Welle von Pleiten verhindern. Dass letztere aber ganz ausbleiben wird, ist unrealistisch. Wir rechnen daher für das zweite Halbjahr mit einer Rückkehr der gesamtwirtschaftlichen Wachstumsraten in den positiven Bereich, gleichwohl dürfte der Zuwachs verhältnismässig mager aussehen. Für die USA bedeutet dies: Während der Zeitraum August bis September nach unseren Berechnungen nicht mehr als eine schwarze Null verbuchen wird, könnte im vierten Quartal ein BIP-Zuwachs von 3.2 % im Quartalsvergleich auf der Agenda stehen.

Heftiger Gewinneinbruch

Was sich in der breiten Wirtschaft zeigt, ist bei kotierten Unternehmen nicht anders. Sie müssen mit einem Einbruch des Umsatzes und des Gewinns rechnen. Dabei bläst der Gegenwind gleichzeitig von mehreren Seiten. Sie verzeichnen neben dem Einbruch der Nachfrage auch massive Störungen in ihrer Lieferkette, was zu Produktionsunterbrüchen führt oder zumindest zu höheren Kosten aufgrund angebotsseitiger Engpässe. Besonders die grossen Unternehmen, wie sie typischerweise am Aktienmarkt vertreten sind, spüren erstmals auch die Kehrseite der globalen Arbeitsteilung und Spezialisierung.

Entsprechend unserer Schätzung für die BIP-Entwicklung werden die Folgen von Covid-19 vor allem im zweiten Quartal spürbar. Für den amerikanischen Aktienmarkt erwarten wir, dass die Unternehmen insgesamt sogar Verluste ausweisen werden. Für das Gesamtjahr prognostizieren wir einen Gewinneinbruch von rund einem Drittel. Die europäischen Unternehmen dürften aufgrund des zyklischeren Branchenmix des Index stärker betroffen sein. Solch ein Gewinneinbruch ist selten, dementsprechend gibt es wenig Vergleichsperioden. Der bisher grösste Einbruch der Unternehmensgewinne wurde während der Finanzkrise verzeichnet

Ein Gewinneinbruch in dieser Grössenordnung ist selten, genau wie Bärenmärkte. Als solcher gilt ein Kurseinbruch von mehr als 20 %, wie wir ihn in den letzten Wochen an praktisch allen Börsen gesehen haben. Das geschah bisher nur einmal pro Jahrzehnt. Weitaus häufiger sind kleinere und mittelgrosse Kursrückschläge. Zwar spielen Emotionen bei hohen Verlusten eine wichtige Rolle, anders als bei Zwischenkorrekturen besteht bei Bärenmärkten zwischen Kursentwicklung und Gewinnentwicklung ein enger Zusammenhang. Ein Blick auf frühere Bärenmärkte zeigt, dass der jeweilige Kursverlust ziemlich genau dem später verzeichneten Rückgang der Unternehmensgewinne entsprach. Die Ausnahmen lassen sich unter anderem mit der hohen Inflation (1970er Jahre) und der stark überdurchschnittlichen Bewertung (Nullerjahr nach Platzen der Internet-Blase) begründen.

Ist alles schon ausgestanden?

Der US-Aktienmarkt hat, ausgehend von seinem noch vor fünf Wochen verzeichneten Allzeithoch, zwischenzeitlich 34 % verloren. Seither konnte er sich wieder etwas erholen. Stimmt der Zusammenhang zwischen Bärenmarkt und Gewinnentwicklung, und vergleicht man den von uns erwarteten Rückgang der US-Unternehmensgewinne mit dem maximalen Kurseinbruch, so zeigt sich, dass die Börse angemessen reagiert hat. So dramatisch die Dynamik auch gewesen ist, gemessen am derzeit erwarteten ökonomischen Schaden erscheint das tiefe Niveau als durchaus gerechtfertigt. Die Bewertungen auf Basis der zu erwartenden Gewinne sind unterdessen noch nicht besonders günstig.

Wir erachten es als verfrüht, von einem Wendepunkt zu sprechen. Aktienmärkte haben zwar die Eigenschaft, zukünftige Ereignisse vorwegzunehmen, bevor sie Gewissheit in Form von besseren Nachrichten oder gar steigenden Gewinnen haben. Nach der letzten Finanzkrise zum Beispiel verzeichneten die Unternehmensgewinne im Januar 2010 ihren Tiefpunkt. Zu diesem Zeitpunkt waren die Aktienkurse schon 50 % höher als auf dem Tiefpunkt im März 2008.

Diesmal ist es etwas anders. Einen Pandemie-Schock wie derzeit haben die modernen Finanzmärkte bisher noch nicht erlebt. Die fehlende Vergleichbarkeit mit früheren Perioden lässt viele Anleger zurückhaltend agieren. Ausserdem ist der Markt noch damit beschäftigt, die aktuelle Situation zu verarbeiten. Dass wir hier erst am Anfang stehen, zeigt ein Blick auf die konsolidierten Erwartungen der Aktienanalysten. Deren Schätzungen wurden erst zögerlich angepasst und zeigen immer noch einen leichten Gewinnanstieg.

Wir erwarten, dass ein Mix aus Hoffnungsschimmern und Hiobsbotschaften auf Kursgewinne wieder Verlusten folgen lassen. Neben dem medizinischen Verlauf werden Zweifel in den Vordergrund rücken, ob die staatlichen Massnahmen ausreichend sind und schnell genug greifen. Auch die Frage, wie sich die Krise im Schuldenmarkt auswirkt, ist offen. Treffen all diese Fragen zusammen, steht zu befürchten, dass die Börsen nochmals bis auf die verzeichneten Tiefstände, oder noch tiefer, fallen könnten. Ein Verglich mit früheren Bärenmärkten zeigt, dass ein solches erneutes Testen der Tiefstände durchaus öfters vorkommt als eine kontinuierliche Erholung.

Es könnte auch anders kommen

Daneben könnte man sich durchaus ebenfalls Szenarien vorstellen, welche die schlimmsten Befürchtungen rasch vergessen liessen. Das wäre zum Beispiel der Fall, wenn der pharmazeutischen Forschung ein schneller Durchbruch für ein Medikament gelänge. Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation WHO sind weltweit 41 Impfstoffentwicklungen gegen das Coronavirus angelaufen. Das Gute ist, dass die Forschenden nicht bei null anfangen. Andere Corona-Viren wie MERS (Ausbruch 2012) und SARS (Ausbruch 2002/03) kennen sie bereits. Darum gab es auch relativ rasch diagnostische Tests. Ähnlich sieht es im Bereich der Medikamentenforschung aus. Sollte in den kommenden Wochen ein Medikament oder Impfstoff zur Marktreife gelangen, könnte das auch der Türöffner für eine rasche wirtschaftliche Erholung sein. In diesem Falle könnten die Abschottungsmassnahmen schneller gelockert werden. Unternehmen müssten zwar immer noch einen deutlichen Gewinneinbruch hinnehmen, doch an den Finanzmärkten käme es wohl zu nachhaltigen Erholungstendenzen. Gerade letzteres wäre auch für die Realwirtschaft eine gute Nachricht. Je schneller sich Verspannungen an den Kapitalmärkten legen, desto besser funktionieren Kreditkanäle und Liquiditätsversorgung.

Diesem positiven Szenario steht im anderen Extrem ein wirtschaftlicher Verlauf gegenüber, der dem Buchstaben L ähnelt. Dann würde dem tiefen Einbruch im zweiten Quartal keine Erholung folgen, was einer wirtschaftlichen Depression entsprechen würde. Das Virus hätte in diesem Fall die Welt noch länger im Griff, eine grosse Insolvenzwelle wäre nicht mehr auszuschliessen. Eine längere Stagnation und weitere Verluste der Wirtschaftsleistung stünden dann auf der Agenda. Nicht nur an den Börsen, sondern insbesondere an den Kreditmärkten, würde der Stresspegel deutlich ansteigen.

Empfehlung

Die Finanzmärkte haben aussergewöhnlich schnell die weitreichenden, negativen Entwicklungen in der Realwirtschaft eingepreist. Der massive Wachstumseinbruch vor allem im zweiten Quartal wird dabei den zaghaften Zuwachs im zweiten Halbjahr übertreffen. Das wird auch tiefe Spuren in den Unternehmensgewinnen hinterlassen. Der von uns erwartete Gewinneinbruch wird durch die aktuellen Kursniveaus weitestgehend reflektiert. Wir interpretieren dies jedoch noch nicht als Wendepunkt.

Wir erachten erneute, temporäre Rückschläge als wahrscheinlicher als eine kontinuierlichere Erholung. Investoren und Analysten werden nach der jüngsten Verkaufswelle und der kräftigen Gegenbewegung in den kommenden Tagen und Wochen weiter damit beschäftigt sein, die Ereignisse und neue Nachrichten zu verarbeiten.

Anleger sollten vor diesem Hintergrund vorsichtig agieren. Eine allfällige weitere Börsenerholung sollte nicht automatisch mit einer nachhaltigen Bodenbildung verwechselt werden. Dennoch empfehlen wir investiert zu bleiben. Wer jetzt verkauft, läuft Gefahr, den Zeitpunkt für den Wiedereinstieg zu verpassen. Wir empfehlen, den Fokus weiterhin auf qualitativ hochwertige, bilanzstarke Unternehmen zu richten. Dies gilt für die Aktien- als auch für die Anleihenauswahl gleichermassen. Eine breite Diversifikation sollte auch nicht-konjunktursensitive Anlageklassen wie Gold und Insurance Linked Securities umfassen.