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„Wir brauchen keine ängstlichen Politiker“

Auf dem Ludwig Erhard Gipfel fordert Bundespräsident a.D. Joachim Gauck mehr Haltung und hält zur Unterstützung der Ukraine eine Delle im deutschen Wirtschaftswachstum sowie eine Arbeitslosenquote von sechs Prozent für zumutbar.

Auf dem Ludwig Erhard Gipfel fordert Bundespräsident a.D. Joachim Gauck mehr Haltung und hält zur Unterstützung der Ukraine eine  Delle im deutschen Wirtschaftswachstum sowie eine Arbeitslosenquote von sechs Prozent für zumutbar.

Von Anke Henrich

Wolfram Weimer, Verleger der Weimer Media Group, kündigte Joachim Gauck den 500 Gästen aus Politik und Wirtschaft als den aus seiner Sicht „besten Bundespräsidenten der vergangenen 30 Jahre“ an. Gauck weiß besser als andere deutsche Politiker, was der Verlust der Freiheit bedeutet. Der Theologe war Pastor der evangelisch-lutherischen Kirche in der ehemaligen DDR.

„Ich war Zeuge der sowjetischen Herrschaft und kenne die perpetuierende Ohnmacht der Vielen und die perpetuierende Übermacht der Wenigen – wohl auch deshalb hat mich das Vorgehen  Putins weniger überrascht als andere In der Politik“, sagte Gauck mit feinem Lächeln auf dem Podium des Ludwig-Erhard-Gipfels. Er trug blau-gelb gestreifte Krawatte. Um dann für manche deutschen Putin-Freunde schmerzhaft konkret zu werden. In der zweiten Phase der Putin-Herrschaft habe sich dessen Verachtung für die Demokratie erkennbar schmerzhaft fortgesetzt. Die aktuellen Akteure der russischen Politik stammten alle aus dem Netzwerk aus politischer Loyalität, Absolutsetzung der Macht und dem Ende freier Medien. „Sie ersetzen die ummantelnde, fehlende kommunistische Ideologie durch neoimperiales Denken und einer Philosophie, in der das Wort Faschismus plötzlich positiv aufgenommen wird. Dieser neodispotische Anspruch wird in den politischen Kadern, den Hochschulen und dem Militär als philosophischer Ersatz für die kommunistische Ideologie gelehrt.“

Gauck warnte eindringlich in Kaltenbrunn am Tegernsee: „Wirklich gefährlich ist das, weil es ein erklärtes  Gegenmodell zur Liberalität des Westens ist.“ Nicht nur in Russland, sondern in der ganzen Welt fürchteten viele Menschen den Wandel und verspürten die Sehnsucht nach einer autoritären Führung. Gaucks nahe Zukunftsperspektive gibt Anlass zur Sorge: Russland und China treffen auf einen geschwächten Westen, der seine Freiheit nicht entschlossen verteidigt.

Aber wie weit würde Gauck dafür gehen? „Ich bin ein Realo. Ich kann die Bedenken der Wirtschaft und auch der Politik nachvollziehen, Wohlstandsverluste schafften soziale Unruhen.“ Eindringlich appellierte der Theologe dennoch: „Es gibt aber auch eine Ratio der Mitmenschlichkeit. Wenn wir die Kriegsopfer nicht kämpfend unterstützen können, tun wir dann das Menschenmögliche, um ihnen mit den uns zur Verfügung stehenden Mitteln zu helfen? Ist eine Delle in unserem Wirtschaftswachstum, eine Arbeitslosenquote von sechs Prozent wirklich unzumutbar für uns?“ Gauck bezieht sich dabei auf Prognosen von Wirtschaftsinstituten, die selbst bei einem abrupten Handelsabbruch noch ein Wirtschaftswachstum für Deutschland von einem Prozent im laufenden Jahr erwarten.

Und welche Folgen hätte die mangelnde Solidarität mit Kriegsopfern für die deutsche Gesellschaft selbst, fragte der Rostocker ins sehr stille Auditorium. Wie stehe es um die deutsche Verteidigungsbereitschaft, wenn „Putins imperialer Wahn weitergeht? Werden wir dann die Kraft haben zu widerstehen?“

Er könne sich sehr gut vorstellen, dass „wenn jetzt einige Ministerpräsidenten oder der Bundeskanzler sagen, wir könnten uns bestimmte Lasten nicht zumuten, dass die Gewalt der Bilder von Mord und Zerstörung so groß wird, das aus der Öffentlichkeit ein humaner Aufschrei erfolgt.“

Der parteilose Ex-Politiker warnte: „Eine Nation, die nicht an sich glauben kann, ist ein leichtes Opfer von aggressiven Ideen von Leuten, die sehr wohl wissen, wie Machterhalt geht.“ Er könne Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) derzeit nicht mehr so gut verstehen. „Ich wünsche mir mehr Deutlichkeit.“ Es habe zudem deutsche Politiker wie den sächsischen Ministerpräsidenten gegeben, die mit relativ gelassenem Blick auf den Diktator geschaut hätten. „Das ist unser Phänomen, bitte, lieber Diktator, wir sind eigentlich ganz okay. Du musst es nicht so böse mit uns treiben. Diese Haltung Deutschlands, weniger seinen Werten verpflichtet zu sein als der Furcht vor einem unberechenbarem Despoten, das ist keine zukunftsorientierte politische Haltung.“

Gauck forderte: „Wir brauchen einen politischen Diskurs aus dem Parlament, der Gesellschaft und den Medien darüber, welches Deutschland wir sein wollen.“ Ein starkes verteidigungsbereites Land, das genau erkenne, wo der Kampf gegen die liberale Demokratie beginnt und welche  Haltungen dagegen angemessen ist. Gauck befürchtet: „Es könnte passieren, dass wir um unsere Wirtschaft zu schützen und Ruhe im Land zu haben, mittelfristig teurer dafür bezahlen werden, als wenn wir jetzt entschlossener, als wir es gerade tun, agieren.“

Deutschland habe sich über die Jahrzehnte an einen unglaublichen Wohlstand gewöhnt. „Wir haben nicht mehr eingeübt,  Entbehrungen zu schultern. Deshalb braucht die Demokratie wieder Elemente einer inneren Ertüchtigung.“ Dazu gehöre, sich bewusst zu werden, dass es keine lohnenswerte Alternative zur liberalen Demokratie gibt. „Wir müssen stärker schätzen und verteidigen, was wir leben.“

Gauck sieht Deutschland bei der kollektiven Identität als Nation inmitten einer Zeitenwende. „Wir brauchen keine ängstlichen Politiker, die so tun, als wäre diesem Land und der Bevölkerung nur zu trauen, wenn es ihr immer gleich gut geht. Sondern die Leute zeigen, wozu sie fähig sind, wenn Lasten auf sie zukommen. Wir vermögen Größeres zu schultern, als das, was uns jetzt vor Augen ist.“
Dieser Ermahnung und Ermutigung durch den Bundespräsidenten a.D. schlossen sich die Teilnehmer des Ludwig Erhard-Gipfels mit viel Applaus an.