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Umbrüche

Welche Zeitenwende uns in der Wirtschaftsverfassung der Welt bevorsteht, können wir derzeit wohl bestenfalls umrisshaft erahnen. Wenn überhaupt. Es trägt das, was wir im täglichen Nachrichtenkreuzfeuer erleben, aber deutliche Züge eines Wandels, der aus der Nähe zum Ereignis nicht zu erkennen ist, sich jedoch schon ankündigt, wenn man einmal ein paar Monate oder nur Wochen zurückblickt.

BÖRSE am Sonntag

Schon jetzt sind einige der brandaktuellen Geschehnisse des Sommers „historisch“ geworden. Noch zu Anfang des Jahres etwa hätte kaum jemand die These veröffentlicht, man werde in wenigen Monaten in Amerika keine reinen Investmentbanken mehr haben. Heute stellt ein Josef Ackermann bei einer Finanzkonferenz lapidar fest: Wir brauchen Investmentbanking, Investmentbanken brauchen wir nicht. Sic transit gloria mundi, prägte man schon im Altertum einen Begriff für das Vergängliche von Personen, Taten und Reichen. Im Moment sehen wir Dinge tränenlos verschwinden, die noch gestern als unabdingbare Voraussetzung für das Funktionieren der Welt schienen: Weitverzweigte Finanzinstitute, eine freie Marktverfassung mit wenig Staat, aber viel Kreativität, ein Streben nach Höherem (nein, nicht Weisheit, sondern Rendite). Nie in den letzten Jahrzehnten wurde so kritisch nach dem Zustand der Ökonomie gefragt, nach der als selbstverständlich geltenden Verbindung Demokratie-gleich- Marktwirtschaft.

Typischerweise, wie fast immer in Zeiten großer Umbrüche, des Verschwindens von Etwas und des Entstehens von etwas Neuem, sind die Vorstellungen über das, was werden soll, bestenfalls verschwommen. Gerade die Kritik an den sogenannten Auswüchsen des Marktes führt nicht etwa dazu, dass die Kritiker mit einem kohärenten Modell für das Neue, das Wünschenswerte auftreten. Man weiß, mit Verlaub, in den Reihen der Neoliberalismus-Kritiker meist nicht einmal, was man da genau angreift. Oft werden Missstände genannt, die ursächlich in der staatlichen Einflussnahme begründet sind und keineswegs in einer Vorherrschaft eines radikal-wirtschaftsliberalen Vorgehens. Zumal es einen wie auch immer gearteten Liberalismus als politisch herrschende Lehre bei uns nie gegeben hat. Der geschmähte Neoliberalismus ist gerade die Denkrichtung, die dem freien Spiel der Kräfte eine Absage erteilt und eine fördernde und begrenzende Ordnungspolitik des Staates verlangt, aber das ist eine andere – und lange – Geschichte.

Manchmal aber gelingt ein kurzer Blick auf das Wirken der Geschichte: Eine der grundlegenden Änderungen, die wir wohl erleben werden, ist eine Neubewertung der klassischen Industrien. Vermutlich werden die Autohersteller nicht mehr die Rolle spielen in einer künftigen Ökonomie, wie sie dies bisher getan haben. Man meint zu sehen, dass dies vor allem die Großen, Mächtigen noch nicht gemerkt haben. Sie gebärden sich als die Dinosaurier, als die sie geschmäht werden. Wer den Auftritt der „Großen Drei“ Ford, GM und Chrysler vor dem US-Senatsausschuss verfolgt hat, dem verschlug es die Sprache. Zum ungläubigen Entsetzen der Zuhörer nicht bereit, auch nur auf einen kleinen Teil ihrer Pfründe und Privilegien zu verzichten, verlangten sie unter Beibehaltung ihrer Firmenjets und Millionengehälter wie selbstverständlich Milliardensummen vom Steuerzahler. Diese Vorstände haben die Zeichen der Zeit nicht erkannt. Sie werden, das ist zu vermuten, gnadenlos hinweggefegt werden – und es bleibt nur die wohl unrealistische Hoffnung, dass sie wenigstens ihre Konzerne nicht vollständig ins Vergessen mitnehmen. Selten war ein Epochenwechsel so glasklar live im Fernsehen zu beobachten. Es dürfte in den nächsten Monaten noch viele, solcher Momente geben, wenn auch nicht immer so deutlich sichtbar präsentiert. In fünf, sechs Jahren aber werden wir die großen Linien der Veränderung nachzeichnen können.