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AKTIEN & MÄRKTE  UNTERNEHMEN  FONDS  ZERTIFIKATE  Rohstoffe   Lebensart Reinhard Schlieker Wirtschafts- und Börsenkorrespondent des ZDF Ein neues Zeitalter der Entdeckungen Könnte es sein, dass die aktuelle Situation an den Börsen jener gleicht, die bei ihrer Entstehung und kurz danach herrschte? Risikoaffine Kaufleute prägten einst das Bild, als sie Schiffsreisen ins Ungewisse finanzierten – und nach der erhofften Rückkehr der Segler aus Gebieten, die nicht mal einen Namen hatten, wohl aber Gewürze, Seide und Geschmeide, sagenhaft reich wurden? Oder eine Flotte bezahlt hatten, die spurlos in den Ozeanen verschwand? Es sieht in der Tat manchmal so aus. Auch der Boom der Eisenbahnaktien in den USA im 19. Jahrhundert war so ein Punkt, ein weiterer vielleicht der Neue Markt, der weltweit unter verschiedenen Bezeichnungen Technologie-Aktien forderte und förderte, ehe er daran zugrunde ging. Die tollkühnen Kaufleute von heute hören auf den Namen „selbstlernende Anlage-Software“, zum Beispiel: Größenwahn at its best. Computer bestimmen das Anlageverhalten großer Fondsgesellschaften, und im Idealfall stellen sie den Kunden Mixturen zusammen, die deren Risikoprofil bedienen. Vergessen scheint die Einsicht, dass Maschinen jeder Façon keinen Verstand haben – so mancher Investor mag sich mit der Erkenntnis begnügen, dass dies erwiesenermaßen auch bei vielen menschlichen Entscheidern der Fall ist. Zufriedenstellen kann uns das allerdings nicht. Die aufgebotenen Algorithmen ziehen an manchen Tagen eine Spur der Verwüstung durch die Börsenlandschaft. Die Volatilität ist Zeuge davon, wenn ohne erkennbaren Grund Bewegungen und Gegenbewegungen so ausfallen, wie man es in Jahresverläufen zu sehen gewohnt war. Menschliche Händler und Anleger stehen vor enormen Herausforderungen: Sie müssen nicht nur die Große Maschine besiegen, die immer dann obsiegen dürfte, wenn rein rechnerische Ergebnisse gewünscht sind, sondern auch noch darauf achten, dass sie deren Fehler nicht nachahmen. Denn der Computer ist verantwortungslos, wie könnte es denn auch anders sein, und die Folgen des Handelns sind im Alltag völlig entrückt von den Ideengebern, die einst seine Schaltkreise gespeist haben. Neben der Volatilität droht also ein weiteres Risiko des automatisierten Programmhandels: völlige Fehlentwicklung. Dass mal eine Flotte voll von Werten im Ozean der Softwareformeln spurlos verschwindet, ist sehr wohl möglich. Vor diesem Hintergrund des Börsenhandels vollzieht sich die allzu menschliche Entwicklung von Politik, Gesellschaft und Wirtschaft auf dem Globus in Bahnen, die wir ebenfalls so nicht kannten. Das gemeinsame Auftreten von gewaltigen Risiken aus allen Lebensbereichen ist heute von einer Wucht, die es zuvor allenfalls im Mittelalter gab, mit Pestepidemien zum Beispiel, die ganze Lebensweisen und Kulturen zerstörten. Wir haben den Syrienkrieg, den Islamischen Staat des Terrors, die Orientierungslosigkeit in China, wo eine starre Regierung alter Männer ein dynamisches Wirtschaftsleben aufbauen wollte und derzeit grandios scheitert. Wir haben zu allem hin einen Ölpreis, der sich tief unten einpendelt, wo doch nach Überzeugung aller Experten vor noch rund zwanzig Jahren das „schwarze Gold“ immer seltener und teurer werden sollte. Jetzt macht nicht die Knappheit Nigeria oder Venezuela zu scheiternden Staaten, sondern der billige Überfluss. Wir haben Migration über Kontinente hinweg, aus korrupten Diktaturen hin zu europäischen Wohlstandsgesellschaften mit verbrieften Menschenrechten. Die Lücken, die für den Aufbau eigener moderner Staatswesen etwa in Afrika entstehen, sind kaum zu schließen. Was Leute wie „Boko-Haram“-Terroristen auch noch gut finden – sie verhungern sicher als Letzte. Schliekers Woche 04 BÖRSE am Sonntag · 09/1 6 Schliekers Woche


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