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Drückt
der Absturz der Volksparteien
das Wachstumspotenzial?
SPD und CDU/CSU sind nur noch ein Schatten ihrer selbst. Warum und weshalb das auch
wirtschaftliche Folgen haben kann, erklärt Jörn Quitzau, Senior Economist bei Berenberg.
Die Volksparteien CDU/CSU und SPD
befinden sich nach den Landtagswahlen in
Bayern und Hessen in kritischem Zustand.
Auf Bundesebene würden die Berliner Regierungsparteien
laut den jüngsten Umfragen
nur noch um die 26 Prozent (CDU/
CSU) und 15 Prozent (SPD) der Wählerstimmen
erhalten. Damit hat sich der seit
vielen Jahren erkennbare Abwärtstrend
im Jahr nach der letzten Bundestagswahl
nochmal beschleunigt. Der Vergleich mit
den Siebziger Jahren zeigt den dramatischen
Verfall: Damals kamen die beiden
Parteien zusammen noch auf rund 90 Prozent
der Stimmen, jetzt sind es nur noch
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rund 40 Prozent.
„It’s not the economy, stupid”
Gemessen an den immer noch guten Wirtschaftsdaten
ist der erodierende Rückhalt
bei den Wählern kaum nachvollziehbar.
Robustes Wachstum, sprudelnde Steuereinnahmen
und ein Boom am Arbeitsmarkt
sollten die Umfragewerte der verantwortlichen
Regierungsparteien stützen und
nicht stürzen lassen. Wirtschaftlicher Erfolg
und die Zustimmung zur Regierungsarbeit
haben sich entkoppelt. Insbesondere
die SPD muss mit ihrem Schicksal hadern, war sie es doch, die mit
der Reformagenda 2010 maßgeblich zum wirtschaftlichen Comeback
Deutschlands beigetragen hat. Bill Clintons Wahlkampfspruch
„It’s the economy, stupid“ hat offensichtlich ausgedient
– auch in Deutschland.
Diverse Gesellschaft, zersplitterte Parteienlandschaft
Die Gründe für den Bedeutungsverlust der Volksparteien werden
seit langer Zeit diskutiert. Parteitaktisches Kalkül, Machterhalt
statt Sachpolitik sowie mangelnde Qualität und Glaubwürdigkeit
des politischen Personals sind dabei als Argumente für die
Stimmenverluste ausführlich erörtert worden. Etwas kurz gekommen
ist aber bisher die Erkenntnis, dass der seit Jahren zunächst
schleichende und inzwischen rasante Bedeutungsverlust der Volksparteien
mit einer individualisierten und diverser werdenden Gesellschaft
einhergeht. Wenn sich Werte, Lebensstile und Weltanschauungen
ausdifferenzieren und Pluralismus und Diversität als
Leitideen für das Zusammenleben immer wichtiger werden, wäre
es geradezu erstaunlich, wenn sich die politischen Präferenzen
nicht auch ausdifferenzierten.
Warum sollten sich die Mitglieder einer Gesellschaft, die immer
unterschiedlicher werden und die beim Konsum ein Höchstmaß
an Produktvielfalt haben, ausgerechnet bei politischen Fragen mit
praktisch nur zwei Angeboten zufrieden sein? Die trendmäßigen
Verluste an Wählerstimmen könnten insofern ganz unspektakulär
als politisches Spiegelbild der gesellschaftlichen Entwicklung interpretiert
werden.
Jörn Quitzau
Senior Economist
bei Berenberg