AKTIEN & MÄRKTE UNTERNEHMEN FONDS ZERTIFIKATE ROHSTOFFE LEBENSART
Man könnte also argumentieren, die ausdifferenzierte
Parteienlandschaft würde die
ausdifferenzierten Wünsche der Menschen
besser abdecken und somit zu mehr Zufriedenheit
beitragen. Dann wäre der Bedeutungsverlust
der Volksparteien eigentlich
nicht zu beklagen, sondern im Gegenteil
zu begrüßen. Dies wäre allerdings ein
Trugschluss, weil der Bürger zwar mehr
Wahlmöglichkeiten hat, am Ende von der
Politik aber trotzdem nur „One size fits
all“- Lösungen angeboten bekommt. Damit
ist Unzufriedenheit bei den Wählern
vorprogrammiert. Je stärker die Präferenzen
der Bürger bei Themen wie Europa,
Migration, Umweltschutz, Innerer Sicherheit,
Datenschutz, Verkehrspolitik oder
Digitalisierung auseinandergehen, umso
größer das Potential für Unzufriedenheit.
Denn letztlich bekommen alle Wähler nur
eine Einheitslösung bei den staatlichen
Angeboten.
Dieses Problem ist umso größer, je heterogener
die Bürgerwünsche sind. Die aktuellen
politischen Spannungen sind eine
Begleiterscheinung des gesellschaftlichen
Trends
zu mehr Individualität. Der Verlust an Gemeinsamkeiten lässt sich
an den Wahlergebnissen der Volksparteien ablesen. Es ist allerdings
fraglich, ob der Kern oder die Mitte der Gesellschaft schon
so stark zerfallen ist, wie es die Umfrage- und Wahlergebnisse der
großen Volksparteien vermuten lassen.
Die Macht der Interessengruppen
In den USA wird schon länger der Einfluss der sogenannten Identitätspolitik
diskutiert, bei der sich die Politik in ihrem Handeln
verstärkt um die Bedürfnisse spezifischer Gruppen – meist Minderheiten
unterschiedlichster Art – kümmern und in den Mittelpunkt
rücken. Oft geht es dabei um kulturelle Fragen, nicht selten
einfach um Partikularinteressen und Ideologie. Der politische Fokus
rückt damit weg von den Interessen der Mehrheitsgesellschaft
hin zu den Interessen von Minderheiten. Dies mag fortschrittlich
sein und zuweilen ehrenwerten Motiven entspringen. Doch wer
Politik vorwiegend für Minderheiten macht, darf nicht überrascht
sein, wenn er auf lange Sicht nicht mehr von der Mehrheit gewählt
wird und seinen Status als Volkspartei einbüßt. Insbesondere für
die SPD dürfte dies relevant sein, denn offenkundig fühlen sich
viele traditionelle SPD-Wähler mit ihren Interessen und ihrer Lebensweise
nicht mehr richtig vertreten.
Bleibt die Frage, weshalb eine Partei, die den Anspruch hat,
Volkspartei zu sein, überhaupt auf die Idee kommt, sich an den
Interessen von Kleingruppen zu orientieren. Darauf kann die
ökonomische Theorie eine Antwort geben: Ineffizienzen kommen
oft dadurch zustande, dass sich die Politik von gut organisierten
15 BÖRSE am Sonntag · 44/18
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