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Interessengruppen leiten lässt, deren Anliegen
für die Interessengruppen selbst einen
sehr hohen Wert hat. Die Nachteile dieser
Interessenpolitik verteilen sich auf den
großen, unorganisierten Rest der Bevölkerung,
für den die Nachteile kaum spürbar
oder so gering sind, dass sich ein Protest
gegen die Interessenpolitik kaum lohnt.
Auf diese Weise werden etwa protektionistische
Maßnahmen wie Zölle erklärt, mit
denen die Politik eine bestimmte Industrie
schützt: Die Industrie, die die Gewinne des
Schutzzolls einfährt, ist typischerweise gut
organisiert und hat dadurch erheblichen
Einfluss auf die Politik – und andersherum
kann sich die Politik auf diese Weise Wählerstimmen
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sichern.
Die Nachteile verteilen sich hingegen auf
die gesamte Bevölkerung und sind für den
einzelnen Bürger so geringfügig, dass er
sie schulterzuckend zur Kenntnis nimmt
– und die verantwortlichen Politiker (zumindest
vorerst) nicht abstraft. Übertragen
auf die Identitätspolitik bedeutet dies,
dass Interessengruppen ihre Ziele, die für
sie einen sehr hohen – oft nicht-finanziellen
– Stellenwert haben, durch gute
Organisation, aggressives Marketing und
Aktivismus an die Politik herantragen und damit auch Gehör
finden. Die Politik verspricht sich davon wiederum Wählerstimmen
beziehungsweise bedient sie Partikularinteressen, denen sie
ideologisch nahesteht. Der Rest der Gesellschaft mag das Anliegen
der Interessengruppe teilen, ablehnen, absurd finden oder
ihm indifferent gegenüberstehen, auflehnen wird sich dagegen
vorerst kaum jemand, weil für ihn selbst dadurch wenig zu gewinnen
ist.
Warum jetzt?
Dass sich die Volksparteien sehr lange in einem nur moderaten
Abwärtstrend befanden und nun regelrecht einbrechen, lässt sich
durchaus erklären: Mit der Migrationskrise sind die gesellschaftlichen
Spannungen erst richtig ausgebrochen. Die Zuwanderungswelle
hat viele Themen aus polit-akademischen Zirkeln in die
Mitte der Gesellschaft gerückt. Quasi über Nacht sind die Spielregeln
des Zusammenlebens auf den Prüfstand geraten. Manche
Debatte über Identitäten und den richtigen Lebensstil, die viele
Menschen zuvor eher für Randnotizen gehalten hatten, bekam urplötzlich
eine reale Dimension. Gerade bei den für die klassischen
SPD-Wähler wichtigen Verteilungsfragen verschob sich die Diskussion:
Verteilungsgerechtigkeit war plötzlich nicht mehr nur ein
Ziel, das innerhalb der Landesgrenzen zu erreichen ist. Nun gab es
auch den Anspruch, Verteilungsgerechtigkeit für die Menschheit
weltweit herzustellen. So berechtigt und intellektuell anspruchsvoll
der global ausgerichtete Ansatz ist, das Gros der Wähler achtet
bei der Wahlentscheidung immer noch darauf, dass das eigene Interesse
bestmöglich vertreten wird – erst recht, wenn die eigene
soziale Position in Gefahr gerät.
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