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kein geldpolitisches Paper verfasst und eine Notenbank bislang nur
als Besucherin betreten – korrekt. Doch wer je in einer Volkswirtschaftsvorlesung
gesessen hat, der weiß, theoretische Kurven-Analysen
befähigen nur die wenigsten Ökonomen für den Chef-Posten der
Europäischen Zentralbank. Übrigens ist der Vorsitzende der amerikanischen
09 BÖRSE am Sonntag · 27/19
Notenbank, Jerome Powell ebenfalls Jurist.
Das viel schwerwiegender – und durchaus nachvollziehbare – Argument
der Skeptiker lautet: Mit Lagarde rücke eine Politikerin auf
einen der wichtigsten Stühle Europas, die die Interessen der Südländer
vertrete und das enge Band zwischen der EZB, den Staaten und
Finanzmärkten nicht lockere. Auch Jens Weidmann, der als hervorragende
Besetzung des EZB-Chefpostens galt und als Präsident der
Deutschen Bundesbank über eine umfassende Expertise verfügt, wäre
kein Garant für mehr Eigenständigkeit der Finanzmärkte gewesen,
aber zumindest ein Signal gegen die schleichende Politisierung der
Geldpolitik.
Kommt mit Lagarde die Zinswende?
Die Finanzmärkte reagieren auf die Nominierung der Französin als
EZB-Chefin mit einem Zinsrutsch. Experten erwarten eine noch
lockerere Geldpolitik. So sind die Anleihenrenditen für europäische
Staatsanleihen mit dem Bekanntwerden der neuen Personalie noch
einmal ein Stückchen tiefer gerutscht, für Spanien und Italien um
rund ein Zehntel Prozentpunkte. Auf knapp minus 0,4 Prozent fiel
die Rendite für deutsche Staatsanleihen mit zehnjähriger Laufzeit
Mitte der Woche – neues Rekordtief. Die Rechnung ist einfach:
Sparer, die dem deutschen Staat 1000 leihen,
gehen in zehn Jahren mit 40 Euro Miese aus
dem Geschäft, Inflation noch nicht inbegriffen
– eine irrsinnige Entwicklung. Analysten
der US-Investmentbank Morgan Stanley gehen
sogar davon aus, dass die EZB die Zinsen
bereits in diesem Monat auf minus 0,5 Prozent
sinken könnte. Eine Zinswende scheint
auch unter Lagarde recht unwahrscheinlich,
Geld bleibt billig.
Mit Christine Lagarde wird zukünftig eine
erfahrene, taktisch kluge Verhandlerin auf
dem Chef-Sessel der EZB sitzen, die ihre
Feuerprobe als Krisenmanagerin bereits
während der Finanzkrise als französische Finanzministerin
abgelegt hat. Als langjährige
Generalsekretärin der IWF kennt sie sich in
der internationalen Finanzwelt bestens aus.
Dennoch hat der Ruf der EZB unter dem
Personalpoker der Europäischen Union gelitten,
denn als von Regierungsweisungen
unabhängige Institution hätte die Besetzung
dieses zweifelsohne richtungsweisenden Postens
nicht nachgeordnet und an die Präsidentschaft
der Europäischen Kommission
gekoppelt sein dürfen.. FS
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