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Christine Lagarde startet ein 1,35 Billionen Euro
schweres Krisenprogramm und lässt die Märkte
jubeln. Doch wäre das wirklich nötig gewesen? Wo
hört Mut auf und fängt Übermut an? Was die neue
Bazooka für den Euro, die Zinsen und die Südländer
bedeutet.
Wer am Pokertisch All In geht, der setzt alles auf eine Karte.
Besser gesagt auf zwei – so viele hält ein Spieler in der mit
Abstand beliebtesten Variante des Glücksspiels, dem Texas
Hold’em Poker, in den Händen. Gemeinsam mit den maximal
fünf aufgedeckten Karten in der Tischmitte müssen diese dann
eine wertvollere Kombination ergeben, als die des Gegenspielers.
Wenn nicht, ist aller Einsatz verspielt, man scheidet aus,
mit leeren Händen und ohne die Chance auf ein Comeback.
Ob Christine Lagarde das weiß? Die Französin ist keine professionelle
Pokerspielerin, aber seit 2019 Präsidentin der Europäischen
Zentralbank.
Und lange hat es nicht gedauert, bis sie in ihrer Funktion als
oberste Währungshüterin des Kontinents zu einem All In gezwungen
war. Ähnlich wie bereits ihr Vorgänger Mario Draghi
im Nachgang der Finanzkrise 2008/09, sieht sich die ehemalige
Direktorin des Internationalen Währungsfonds durch die Coronakrise
genötigt, geldpolitisch alle Karten auf den Tisch zu
legen. Da könnte es hilfreich sein, zu wissen, wie man erfolgreich
10 BÖRSE am Sonntag · 24/20
pokert.
EZB – Ein All In auf Raten
Zu dem schon länger existierenden Anleihekaufprogramm APP,
über das die EZB monatlich Wertpapiere für 20 Milliarden Euro
erwirbt, kommt nun das PEPP-Programm dazu. Dieses war zunächst
auf 750 Milliarden Euro festgeschrieben. Jetzt werden
noch einmal 600 Milliarden Euro auf dann insgesamt 1,35 Billionen
Euro drauf gepackt. Bis Ende 2020 summiert sich so ein
Kaufvolumen von 100 Milliarden Euro pro Monat. Laufen wird
das Programm bis „die Phase der Coronavirus-Krise vorüber ist“,
hieß es in einer Mitteilung der Notenbank. Mindestens jedoch
bis Juni 2021. Die Zinssätze bleiben derweil unverändert und
historisch niedrig. Der Leitzins beträgt
aktuell null Prozent. Für Geld, das Finanzinstitute
bei der Notenbank parken,
fallen 0,5 Prozent an.
Wer beim Poker All In geht, tut das entweder,
weil er sich eines Spielgewinns
hundertprozentig sicher ist, besonders
mutig ist, oder weil ihm die Chips ausgehen,
sprich aus Verzweiflung. Bei der EZB
deutet vieles auf Letzteres hin. Im Grunde
liegt nun aller Einsatz auf dem Tisch. An
den Märkten sorgt das für Kasinostimmung.
Trotz aller Risiken jagen Anleger
und Investoren die Kurse der weltweit
führenden Indizes zurück in Richtung
Vorkrisenniveau. Und doch bleibt die
Frage: Wäre ein so frühes All In wirklich
nötig gewesen? Oder hätte es auch eine
defensivere Spielvariante getan?
Eurozonen-BIP könnte um 8,7
Prozent schrumpfen
„Die jüngsten Zeichen deuten auf einen
scharfen Einbruch, einen schnellen Absturz
auf dem Arbeitsmarkt, in der Industrie
und bei Dienstleistungen hin",
rechtfertige Christine Lagarde die Fast-
Verdopplung des ursprünglich festgelegten
Einsatzes. Die EZB schätzt den
Rückgang des BIPs innerhalb der Eurozone
in diesem Jahr auf 8,7 Prozent. Die
Weltwirtschaft könnte um sechs Prozent
schrumpfen, schätzt die OECD. Das gab
es in Friedenszeiten seit über 100 Jahren
nicht mehr. Die Inflationsrate lag dazu
im Mai bei 0,1 Prozent – weit von der
Zweiprozentmarke entfernt, die die Notenbank
anstrebt.
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