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17 BÖRSE am Sonntag · 36/20
Aber wäre genau das in Zukunft
nicht denkbar, weil man irgendwann
nicht mehr anders kann?
Natürlich ist das denkbar. Beispielsweise
wenn Italien auf keinen grünen Zweig
kommt, mit allem was jetzt an Maßnahmen
ergriffen worden ist. Grüner
Zweig heißt: Zum einen ein stärkeres
Wirtschaftswachstum zu erreichen und
zwar eines, das tragfähig und nachhaltig
ist. Dazu muss man Produktivitätsfortschritte
generieren. Italien hat allerdings
seit seinem Eintritt in die Währungsunion
keinerlei Produktivitätsfortschritte
mehr erzielen können. Das ist eine lange
Zeit. Natürlich geht das Produktivitätswachstum
in der ganzen Welt zurück,
aber nirgendwo ist es so ungünstig wie
in Italien. Zum zweiten: Nachdem die
Pandemie abgeklungen ist, müssen Italien,
aber auch andere Staaten der Währungsunion,
ihre öffentlichen Haushalte
konsolidieren.
„Wir müssen uns fragen, ob
wir in einen zweiten kalten
Krieg hineinlaufen und welche
Auswirkungen dieser
hätte.“
Sollten wir uns also erst einmal
nach Inflation sehnen, und dann
2022 allmählich mit dem Fürchten
beginnen?
Nein, ich sehne mich weder nach Inflation,
noch habe ich Panik vor ihrem Auftreten.
Ich schaue auf die Gesamtwirtschaft
immer mit gewissen abwägenden
Sorgen. Ich wünsche mir vor allen Dingen,
dass wir eine Normalisierung der
Wirtschaftsentwicklung bekommen und
kein zweiter Lockdown ähnlich dem in
diesem Frühjahr bei einer zweiten Infektionswelle
notwendig wird.
Ist Inflation also gar nicht das, wovor wir uns derzeit
zuallererst fürchten sollten?
Im Moment können wir beobachten, dass mit Blick auf die
Weltwirtschaft eine Überlagerung durch sicherheits- und außenpolitische
Interessen stattfindet. Das Stichwort ist da vor
allem die Rivalität zwischen den USA und China. In der Öffentlichkeit
wird das gern Donald Trump zugeschrieben. In
Wirklichkeit steckt dahinter aber das Expansionsstreben Chinas.
Und das macht mir natürlich große Sorgen. Wir müssen
uns fragen, ob wir in einen zweiten kalten Krieg hineinlaufen
und welche Auswirkungen dieser hätte.
„Wir brauchen einen Strukturwandel in
der Wirtschaft, sodass Unternehmen, die
eigentlich nicht mehr überlebensfähig
sind, vom Markt verschwinden.“
Noch befinden wir uns im „Krieg“ gegen das
Coronavirus. Clemens Fuest, der Chef des Ifo-
Instituts, warnte dem Spiegel nach jüngst vor einer
Stagflation.
Ich habe nicht den Eindruck, dass er dies als ein akutes Risiko
ansieht. Wir müssen in der mittleren Frist durchaus aufpassen,
dass aus dem Zusammenspiel einer stark betroffenen
Realwirtschaft und den riesigen Geldsummen in der Wirtschaft,
keine Inflation entsteht. Corona ist in erster Linie ein
schwerer Produktivitätsschock. Deshalb meine Kritik an den
arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen der Bundesregierung
einschließlich der Verlängerung des Kurzarbeitergelds. Wir
brauchen einen Strukturwandel in der Wirtschaft, sodass Unternehmen,
die eigentlich nicht mehr überlebensfähig sind,
vom Markt verschwinden. Unternehmen müssen zudem frei
umstrukturieren können. Beides ist wichtig, um Produktivitätsfortschritte
zu erzielen.
Also Kurzarbeit besser heute als morgen beenden?
Nein, so würde ich das nicht sagen. Aber selbst gewerkschaftsnahe
Ökonomen und Politologen sehen ein, dass die Entscheidung,
das Kurzarbeitergeld zu verlängern, zu früh gekommen
ist. Wir sind wie gesagt im Aufschwung. Setzt sich dieser fort
und kommen von der Pandemie-Seite keine weiteren Restriktionen,
dann werden wir im nächsten Jahr ein kräftiges Wachstum
erleben. Dann brauchen wir die Kurzarbeit nicht. Wir halten