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China: Marktwirtschaftliches Erdbeben

Bei den chinesischen Funktionären, formell alle noch kommunistisch, geht die Angst um: Werden sich die Märkte zum ersten Mal in eine Richtung bewegen, die nicht von der KP oder dem Volkskongress zu steuern ist? Eine riesige Schockwelle schüttelt das Land, das immer noch die Lehren Mao Tse Tungs als Quasi-Religion hochhält.

BÖRSE am Sonntag

Bei den chinesischen Funktionären, formell alle noch kommunistisch, geht die Angst um: Werden sich die Märkte zum ersten Mal in eine Richtung bewegen, die nicht von der KP oder dem Volkskongress zu steuern ist? Eine riesige Schockwelle schüttelt das Land, das immer noch die Lehren Mao Tse Tungs als Quasi-Religion hochhält.

Der Aktienmarkt ist der wichtigste Indikator des freien Marktes. Der freie Markt aber ist die Grundvoraussetzung für das Bestehen einer freien Gesellschaft. Das ist seit Jahrhunderten bekannt. Wenn an den Börsen die Kräfte des Marktes, also Angebot und Nachfrage, ohne Unterdrückung und Bedrohung frei wirken können, sind Veränderungen und zeitweise auch drastische Übertreibungen unumgänglich. Doch nur so besteht die Möglichkeit, dass die Abbildung aller Unternehmen durch Aktien genau dem wirklichen Werten, den jede einzelne Firma hat, entsprechen. Und weil sich jede Unternehmung mit flüssigen Mitteln versorgen oder durch eine Kapitaldecke gesichert sein muss, ist die Börse eine so unverzichtbare Voraussetzung für jede funktionierende Wirtschaft.

Was passiert dieser Tage in China? An Chinas Börsen sind rund vier Billionen US-Dollar an Buchwert verlorengegangen, denn die Märkte im Reich der Mitte haben am gestrigen Montag das größte Tagesminus seit Februar 2007 verzeichnet, und der Kursrutsch ist noch nicht zum Stehen gekommen. Die Kurse an den Handelsplätzen in Shanghai und Shenzhen brachen gestern jeweils um mehr als acht Prozent ein, der Index in Shenzen lag am Dienstag zwitweise fünf Prozent im Minus, der Shanghai Composite verlor 1,68 Prozent auf nun 3663 Punkte. Für die kommenden Tage besteht die realistische Möglichkeit, dass es mindestens nochmal so weit nach unten geht. Die von westlichen Investoren bevorzugt genutzte Börse in Hongkong scheint sich dabei noch vergleichsweise gut zu halten – am Montag ging sie mit einem Minus von nur gut drei Prozent aus dem Handel.

Die hilflosen Kommunisten, die chinesischen Funktionäre also, reagieren mit den ihnen zugänglichen Mitteln: Handelsverbote für Aktien, künstliche Liquidität, Konjunkturspritzen – doch sie werden das Spiel der Kräfte an den Aktienmärkten nicht aufhalten können, solange es in China ein Wirtschaftswachstum geben soll. Denn die Turbulenzen sind angesichts der Börsenentwicklungen der vergangenen Monate absolut vorhersehbar. Seit Mitte des letzten Jahres hatten die Börsen in Shanghai und in Shenzhen eine formidablen Rallye gezeigt. Innerhalb von nur zwölf Monaten waren Kursaufschläge von rund 150 Prozent zu beobachten. Die Korrektur musste kommen: Im Juni 2015 verloren die Kurse binnen weniger Tage mehr als 30 Prozent ihres Wertes.
Den Löwenanteil der Verluste gehen haben bisher chinesische Privatleute zu verzeichnen. Vom Taxifahrer bis zum Bankangestellten – in China war angesichts der Börsenrallye das Börsenfieber ausgebrochen. Viele Privatleute hatten Kredite aufgenommen, um an den scheinbar von selbst laufenden Wertsteigerungen der Aktien zu partizipieren. Wer keine Aktien hatte, wurde als Dummkopf abqualifiziert – die Dotcom-Blase am deutschen Markt war, so scheint es, ein Kinderspiel dagegen.

Was geschieht nun mit den deutschen Autoherstellern? BMW, der VW-Konzern und Daimler verkaufen einen großen Teil ihrer Jahresproduktion in das Reich der Mitte. Völlig vorhersehbar ist, dass ein Börsencrash in China die deutsche Wirtschaft massiv treffen wird, denn die Automobilindustrie ist sozusagen der Motor der deutschen Wirtschaft. Eine Kettenreaktion könnte in Gang kommen: Die Kursverluste schädigen viele Chinesen wirtschaftlich derart, dass sie sich beim Konsum fühlbar einschränken müssen. Die direkte Folge: es würden weniger Autos gekauft. Der unmittelbare Auslöser für den Kurseinbruch am Montag ist in der Sorge führender Investoren, die chinesische Wirtschaft könnte weiter an Schwung verlieren, zu suchen. Denn das Wirtschaftswachstum zwischen der Wüste Gobi und dem Yangtse-Tal sinkt ohnehin seit einiger Zeit. Gestern war bekanntgeworden, dass die Gewinne von chinesicher Industrieunternehmen im Juni auf breiter Front leicht zurückgegangen sind, dies vor dem Hintergrund, dass Chinas Industrieproduktion  zuletzt so stark geschrumpft ist wie seit mehreren Jahren nicht mehr. Zudem rechnen Experten weltweit mit einem Anziehen des US-Leitzinses. Das dürfte für Kapitalbaflüsse aus China sorgen. – Diese Nachrichten haben genügt. Der chinesische Aktienmarkt hat in dieser Woche bereits rund zehn Prozent verloren. Den vier Billionen US-Dollar, die schon versenkt sind, dürften weitere Billionen folgen.