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Die Woche der Wahrheit für Europa

Entscheid des Verfassungsgerichts, Brexit-Abstimmung und Spanienwahl: Carsten Mumm, Leiter der Vermögensverwaltung bei der Privatbank Donner & Reuschel, analysiert die aktuelle Lage zwischen Armenien und Atlantik, zwischen Nauplia und Nordkap, zwischen Bremain und Brexit.

BÖRSE am Sonntag

Entscheid des Verfassungsgerichts, Brexit-Abstimmung und Spanienwahl: Carsten Mumm, Leiter der Vermögensverwaltung bei der Privatbank Donner & Reuschel, analysiert die aktuelle Lage zwischen Armenien und Atlantik.

Angesichts der allgegenwärtigen Berichterstattung zum anstehenden Brexit-Votum fand ein anderes, für die Zukunft der europäischen Staatengemeinschaft und des europäischen Währungsraums vergleichbar wegweisendes Ereignis kaum Beachtung. Am 21. Juni verkündete das Bundesverfassungsgericht seine Entscheidung zur Rechtmäßigkeit der von der EZB im September 2012 angekündigten – bisher aber nie angewandten – Möglichkeit des unbegrenzten direkten Aufkaufs von Staatsanleihen im Rahmen von Nothilfemaßnahmen für Länder der Euro-Zone. Das Gericht billigte das sogenannte OMT-Programm und schloss sich damit einem bereits bestehenden Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) an.

Einzig für den Krisenfall wurden Bedingungen gestellt, zum Beispiel, dass die Bundesregierung und der Bundestag die Rechtmäßigkeit des EZB-Eingriffs überwachen und gegebenenfalls eingreifen sollen. Im Falle einer ablehnenden Entscheidung der Verfassungsrichter wären kurzfristige Turbulenzen an den Kapitalmärkten wahrscheinlich gewesen. Die Bundesbank hätte sich dann nicht an etwaigen Kaufprogrammen beteiligen können, was deren Wirksamkeit deutlich eingeschränkt hätte. So jedoch zeigten sich die Börsen kaum beeindruckt.

Damit steht wieder die Abstimmung des britischen Volkes auf der Tagesordnung. Darüber wurde in den letzten Wochen bereits mehr als alles Notwendige analysiert, prognostiziert, geschrieben und gesagt. Seit jeher lagen die Umfragen und Wettquoten denkbar knapp beieinander. Hatten noch bis zum Ende der letzten Woche die Brexit-Befürworter die Nase vorn, befinden sich seit dem schrecklichen Attentat auf die Parlamentsabgeordnete Jo Cox vom vergangenen Freitag die Pro-EU-Anhänger wieder im Aufwind.

Brexit oder Bremain? Völlig offen!

Trotzdem kann der Ausgang des Votums nicht annähernd vorausgesagt werden. Vor allem die gemäß Umfragen etwa zehn Prozent noch unentschlossener Wähler werden das Zünglein an der Waage sein. Auf welche Seite sich diese Gruppe letztlich mehrheitlich schlägt, kann von Tagesereignissen oder auch der allgemeinen Stimmungslage abhängen. Genau so schnell wie der letzte Meinungsumschwung erfolgte, kann es bis zum Referendum auch noch eine weitere Kehrtwende geben.

Eine Gegenüberstellung der Sachargumente beider Seiten zeigt, dass sie für Briten, die kein tiefer gehendes Verständnis ökonomischer, juristischer und politischer Zusammenhänge haben, kaum nachvollziehbar sind. Beide Seiten werben beispielsweise mit einem stärkeren BIP-Wachstum, mehr Jobs und weniger Kosten bzw. mehr Einnahmen für den Fall des Brexits / Nicht-Brexits. Die Brexit-Befürworter gehen bei Ihrer Argumentation allerdings davon aus, dass der bestehende Zugang zum EU-Binnenmarkt erhalten bleibt. Da die Gemeinschaft diesem Ansinnen kaum zustimmen kann – es würde bedeuten, dass sich Staaten die wesentlichen Vorzüge der EU-Mitgliedschaft erhalten könnten, ohne jedoch die Pflichten der Mitglieder zu tragen – ist dieses Argument kaum stichhaltig. Genau so wenig, wie die von Boris Johnson werbewirksam proklamierten wöchentlichen Zahlungen i.H.v. 350 Mio. GBP der Wahrheit entsprechen.

Glückliche Menschen wollen keine Änderung des Status Quo

Aufgrund der teils schwer nachvollziehbaren ökonomischen und politischen Vor- und Nachteile des EU-Austritts werden diese Aspekte letztlich nicht den Ausschlag geben. Vielmehr werden vor allem emotionale Themen die entscheidenden Stimmen bewegen. Den Brexit unterstützt vor allem die diffuse Angst vieler Briten vor der erdrückenden Regulierung durch die EU-Zentrale in Brüssel und vor der „grenzenlosen Einwanderung krimineller Subjekte“ über die offenen Grenzen. Den Brexit-Gegnern spielte eher die hochemotionale Diskussion nach dem Attentat von Bristall in die Hände. Unter diesem Aspekt wäre selbst ein erfolgreicheres Auftreten der englischen Nationalmannschaft in den Gruppenspielen der Fußball-Europameisterschaft wünschenswert gewesen. Glückliche und positiv gestimmte Menschen wollen ihren Status Quo in der Regel nicht verändern und hätten somit eher für den Verbleib in der EU gestimmt.

Wie die Kapitalmärkte auf das Abstimmungsergebnis reagieren werden, kann anhand der Bewegungen seit Anfang Juni erahnt werden. Solange die Brexit-Befürworter im Vorteil waren, gingen die Aktienmärkte gen Süden, die Zinsen fielen, der Goldpreis und der US-Dollar stiegen. In den letzten Tagen kehrten sich diese Entwicklungen tendenziell um. Entsprechend werden somit auch die kurzfristigen Auswirkungen an den Börsen nach dem Referendum ausfallen: im Brexit-Fall für Aktien negativ, ansonsten positiv.

Es ist jedoch nicht zu erwarten, dass es zu heftigen und lang anhaltenden Kursverlusten an den Aktienmärkten kommen wird. Dafür spricht vor allem die Ankündigung der EZB und anderer Notenbanken, im Falle von Turbulenzen stabilisierend einzugreifen. Auch die Staatsführer der bestehenden EU-Staaten dürften schnell rhetorische Beruhigungspillen anbieten, um die Situation zu stabilisieren. Zudem trifft dieses Thema den Markt nicht überraschend. Ganz im Gegenteil werden die potenziellen Auswirkungen seit Monaten in allen Medien ausführlich diskutiert. Ein Teil der potenziell negativen Auswirkungen dürfte damit in den aktuellen Kursen enthalten sein, wodurch weitere Kursverluste moderat ausfallen sollten.

Austrittsverhandlungen würden sich über Jahre hinziehen

Wenngleich nahezu sicher ist, dass ein Brexit langfristig vor allem für die britische Ökonomie negative Folgen hätte, ist Großbritannien auch nach dem Votum zunächst Mitglied der EU. Die Austrittsverhandlungen werden sich über Jahre hinziehen, wodurch sich erst langsam herauskristallisieren wird, welche Auswirkungen auf einzelne Unternehmen entstehen. Auch das spricht gegen sofortige größere Verluste.

Sobald die Brexit-Aufregung dann nachlässt, müssen wir unsere Aufmerksamkeit gen Süden richten: nach dem Brexit ist nämlich vor der Parlamentswahl in Spanien, die aufgrund der gescheiterten Regierungsbildung für Sonntag, den 26. Juni, angesetzt wurde. Aus heutiger Sicht ist ein ähnlich zersplittertes Ergebnis wie beim letzten Wahlgang wahrscheinlich, wodurch sich die Bildung einer Regierung erneut schwierig und langwierig gestalten könnte. Sollte jedoch die links orientierte PODEMOS wider Erwarten deutliche Zugewinne erhalten, könnten die Märkte durch die Aussicht auf einen verstärkt antieuropäischen Kurs in Spanien durchgeschüttelt werden. 

Wie auch immer, am Montag werden wir diese außergewöhnlich ereignisreiche Woche hinter uns haben – hoffentlich ohne heftige Verwerfungen an den Börsen. Dann wäre Zeit für ein wohlverdientes Sommerloch, in dem wir in Ruhe die verbleibenden zwei Wochen der EM-Endrunde genießen können. Das wünsche ich uns allen!