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Brexit, jüngster Stand:
Es geht
ans Eingemachte
Wie sich die Zeiten ändern. Wenn eine britische Wirtschaftszeitung als Überschrift „Main Attraction“ wählt,
geht es nicht um Sehenswürdigkeiten, sondern um einen deutschen Fluss. In Großbritannien wird vielerorts
inständig gehofft, der Brexit möge doch nicht kommen – doch die Bänker planen u ngerührt ihren Umzug.
Die deutschen Regionen, die spätestens seit der Wiedervereinigung
die Kriterien für eine Förderung aus verschiedenen Fonds der EU
erfüllten, dürfen lange Gesichter machen. Die bestürzten Ministerpräsidenten,
die vor einiger Zeit in Brüssel den Stand der Dinge
erkunden wollten, dürfen sich schon mal überlegen, wie sie ihre
strukturschwachen Regionen und ihre Landwirte fördern beziehungsweise
ruhigstellen wollen, wenn der Geldstrom versiegt. Womöglich
bringt das Verwerfungen in den Länderfinanzausgleich,
womöglich bleibt der Bund als Rettungsanker.
Tieferer Grund des kommenden Schmalhans-Zeitalters: Das Ausscheiden
Großbritanniens aus der Europäischen Union unter Mitnahme
bisher gezahlter Nettobeiträge von mehr als zwölf Milliarden
Euro – pro Jahr. Der Bund dürfte sich angesprochen fühlen, zum einen,
weil das neu ausgerichtete Innenministerium auch für Heimat
zuständig ist, und die beinhaltet bekanntlich weniger ertragreiche
Felder, Wiesen und Auen, was das Herz erfreut, aber nicht das Budget.
Im aktuellen Sechs-Jahreszyklus bis 2020 erwarten die Regionen
für den ländlichen Raum 9,5 und für dessen Bauern knapp 35
Milliarden Euro an Direkthilfen. Danach ist Sense.
Angela Merkel als Kronzeugin der Brexiteers
Zum zweiten allerdings, und das mag schwerer wiegen, auch wenn
es niemand ausspricht: Die Entscheidungen der Bundesregierung,
oder vielmehr deren Nicht-Entscheidungen vom Sommer 2015, die
zur unkontrollierten Massenimmigration von hunderttausenden
Flüchtlingen und anderen Migranten führten, haben die Brexitgegner
in Großbritannien womöglich über die Klippe gestoßen. Plausible
Untersuchungen nach der Entscheidung von 51,87 Prozent der
britischen Wähler, die Union zu verlassen, weisen auf ein Aufwallen
der Furcht vor Zuwanderung hin, die womöglich jene zwei bis drei
Prozentpunkte Zuwachs für die „Brexiteers“ ausmachten.
Großbritannien hat, wie dieser Tage tragisch erneut zu sehen, große
Probleme mit der Integration von Zuwanderern aus dem islamisch
geprägten Raum, zudem mit den Folgen der früher leichteren Einbürgerung
aus den Commonwealth-Staaten zu kämpfen. Es gibt
bereits Großstädte, in denen gebürtige Briten nur eine Minderheit
unter vielen sind, so etwa Luton bei London, oder in Nordengland.
Die teils haarsträubenden Gewaltverbrechen auch aus diesen Kreisen
bestärken derzeit die Abschottungsbefürworter, wohingegen in
der politischen Klasse der Hauptstadt schiere Verzweiflung herrscht
angesichts der Komplexität des Vorhabens. Zumal die wirtschaftlichen
Nachteile mehr und mehr sichtbar werden.
„Not everyone likes Ebbelwoi“
Unlängst titelte der „Economist“: „Main Attraction“ und damit war
diesmal nicht das englische Wort, sondern der deutsche Fluss gemeint.
An den Main zieht es die Banker, und Frankfurt kassiert
die Brexit-Dividende: Hierhin wandern mehr Brexit-Aussiedler als
in jede andere europäische Region. Credit Suisse hat schon 250
Jobs verlegt, die Deutsche Bank zieht ihr Geschäft hier zusammen,
und der Goldman-Sachs-Chef findet alles „Great“ am Main, auch
das Wetter. Das Wetter? Nun ja, er war halt viel in London. „Not
everyone likes Ebbelwoi“, muss man allerdings konstatieren. Der
Frankfurter Apfelwein sei nichts für säureempfindliche Mägen,
weiß die Economist-Redaktion, wobei über einen Feldversuch etwa
in Frankfurt-Sachsenhausen nichts überliefert ist. Man findet zudem
die Tatsache bemerkenswert, dass vierzig Prozent der Frankfurter
Einwohner ausländischer Herkunft sind, was hier als „Asset“
08 BÖRSE am Sonntag · II | 2018
Schliekers Börsenmonat