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Während wir bewusst sind, können wir anscheinend auch nicht daran zweifeln, dass wir als bewusste Wesen auch existieren. Daher rührt einer der berühmtesten Slogans der Philosophie, René Descartes’ Satz „Ich denke, also bin ich“. Allerdings ist diese so selbstverständliche Angelegenheit, dass wir nämlich ein bewusstes Leben führen, bei genauerem Hinsehen ziemlich rätselhaft. Ich bin mir gerade einer Kaffeetasse bewusst, die neben meinem Computer steht. Hier und jetzt sehe ich aus meiner Perspektive eine Kaffeetasse. Dabei erlebe ich mich wie jede(r) andere als das Zentrum eines Geschehens, das sich langsam durch die Zeit erstreckt. Allerdings weiß ich genau deswegen, dass Sie meine Kaffeetasse gerade nicht sehen und dass Sie sich an einer anderen Zeitstelle befinden, während Sie diese Zeilen lesen. Es sieht also so aus, als ob es neben unseren subjektiven Standpunkten eine objektive Ordnung der Dinge und Ereignisse gibt. Doch wie passt unser Eindruck, ein Zentrum des Geschehens zu sein, überhaupt in die objektive Ordnung der Dinge? Viele Naturwissenschaftler und Philosophen wollen diesem Rätsel heute ausweichen und meinen, dass es eigentlich gar kein Ich, kein Selbst oder Bewusstsein gibt, weil das Universum eigentlich eine rein objektive Ordnung ist, die man nur vom Standpunkt der Naturwissenschaft wirklich erfassen kann. Dann wäre unser subjektiver Standpunkt aber eine unerklärliche Illusion. Das Problem mit dieser Strategie der Selbstverleugnung ist aber, dass unser Bewusstsein davon, dass alle anderen sich auch als Zentrum eines Geschehens erleben, die Quelle aller Ethik und alles Respekts ist. Wir schulden einander den Respekt vor unserer Humanität, gerade weil jede(r) von uns bewusst und damit auch schmerz- und irrtumsanfällig ist. 114 // Anlagetrends 2016 Die rätselhafte Natur des Bewusstseins Der US-amerikanische Philosoph Thomas Nagel liegt hier völlig richtig, wenn er darauf hinweist, dass wir überhaupt alle deswegen zum altruistischen Handeln, d. h. zum Respekt vor anderem bewussten Leben fähig sind, weil wir uns als Zentrum des Geschehens erleben. Darin sieht er die Möglichkeit des Altruismus begründet. Das bedeutet aber, dass unsere Vorstellung davon, wie das Bewusstsein in die objektive Ordnung der Dinge passt, die wir wissenschaftlich beschreiben, unzertrennlich mit der Ethik verwoben ist. Die rätselhafte Natur des Bewusstseins besteht also vielleicht gar nicht so sehr darin, dass das Bewusstsein ein Fremdling in den wohl weitgehend geistig kalten und unbelebten Regionen des Kosmos ist. Vielmehr besteht sie darin, dass wir das Bewusstsein prinzipiell nicht loswerden können, wie sehr wir dies uns in schlechten Zeiten auch wünschen und daher zu Erholungsstrategien oder gar Betäubungsmitteln greifen. Der richtige Weg besteht nicht darin, das Bewusstsein insgesamt zu vermeiden, sondern darin, ihm wieder einen zentralen Stellenwert in unserer wissenschaftlich-technologischen Zivilisation einzuräumen. Der erste Schritt besteht darin, einzusehen, dass es nicht nur die rein objektive, unerbärmlich materiell-energetische Wirklichkeit des Universums gibt. Das Bewusstsein gibt es zum Glück wirklich. Sonst hätte das Leben keinerlei Sinn. Prof. Markus Gabriel Lehrstuhl für Erkenntnistheorie, Philosophie der Neuzeit und Gegenwart, Universität Bonn Jede(r) von uns ist häufig bei Bewusstsein: wir wachen morgens auf und sammeln unsere Gedanken, aber wir sind auch im Traum bewusst, indem wir etwas zu erleben scheinen, was uns emotional und kognitiv mitreißen kann. Kolumne Ich ist nicht Gehirn Mehr zu den Ideen von Prof. Markus Gabriel erfahren Sie in seinem neuen Buch, das im November 2015 beim Ullstein Verlag erscheint.


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