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Der wichtigste Wall-Street-Index hat den zweiten Tag in Folge einen neues Allzeithoch markiert. Obwohl Experten vor extremen Bewertungen warnen, treibt der Renditehunger der Investoren die Kurse immer höher. Der Brexit-Schock scheint verdaut. Ist es jetzt höchste Zeit, um wieder einzusteigen?
Der wichtigste Wall-Street-Index hat den zweiten Tag in Folge einen neues Allzeithoch markiert. Obwohl Experten vor extremen Bewertungen warnen, treibt der Renditehunger der Investoren die Kurse immer höher. Der Brexit-Schock scheint verdaut. Ist es jetzt höchste Zeit, um wieder einzusteigen?
Kaufrausch an der Wall Street: Das US-Aktienmarkt-Barometer S&P-500 steigt am Dienstag den zweiten Tag in Folge auf ein neues Allzeithoch. Der Leitindex schloss um 0,7 Prozent höher auf dem Rekordwert von 2.152 Zählern. Der Dow Jones, der noch traditionsreicher ist als der S&P, kletterte bis zum Börsenschluss ebenfalls 0,7 Prozent höher auf 18.347 Punkten und lag damit auf dem höchsten Stand seiner Geschichte.
Das Augenmerk der Investoren liege derzeit darauf, wie lange sich der Index auf diesem Niveau halten könne, sagte Marktstratege Robert Pavlik vom Vermögensverwalter Boston Private Wealth. Schub bekommen US-Aktien derzeit durch eine traumhafte Kombination, die es nicht häufig gibt: Die US-Konjunktur ist robust, und dennoch sind bis auf weiteres kaum Zinserhöhungen der US-Notenbank (Fed) zu erwarten. Das heißt für die Börse: viel Kraft und nur lose Zügel. Hinzu kommt, dass es in den beiden wichtigen Industrienationen Japan und Großbritannien wieder Aussichten auf klare politische Verhältnisse sowie auf neue Konjunkturstützen der dortigen Notenbanken gibt.
„Investoren denken, dass sie an Bord springen müssten, bevor der Zug den Bahnhof verlässt“, sagte ein Aktienstratege des News Yorker Brokerhauses Miller Tabak & Co. gegenüber dem Nachrichtendienst Bloomberg. Die große Unsicherheit, die das Brexit-Votums gebracht habe, werde die US-Notenbank Fed davon abhalten, in diesem Jahr zu handeln. Das helfe, Aktienverkäufe zu vermeiden.
Hintergrund: Am Freitag hatte die US-Regierung einen überraschend starken Bericht zum Arbeitsmarkt bekannt gegeben. Die Ängste, der US-Konjunktur könne die Puste ausgehen, sind damit wieder verflogen. Zugleich hat die Fed aber deutlich gemacht, dass sie nur sehr vorsichtig – wenn überhaupt – die Zinsen erhöhen wird, solange nicht klar ist, welche Auswirkungen der Brexit, also der vorhersehbare Ausstieg der Briten aus der Europäischen Union, haben wird.
Fed hat den Schlüssel zum Bullenmarkt
Der Brexit hat massive Auswirkungen auf die Prognosen der Investoren zur US-Geldpolitik, wie eine Auswertung des US-Großbank J.P. Morgan zeigt: Sollte sich beim Stellenwachstum, der Inflation oder den Unternehmensinvestitionen nicht noch eine überraschende Wende abzeichnen, rechnen demnach die meisten Marktteilnehmer in diesem Jahr offenbar nicht mehr mit einem weiteren Zinsschritt.
„Die Aussicht darauf, dass die US-Zinsen nun sogar noch länger auf ihrem niedrigen Niveau bleiben und andere Zentralbanken eine weitere Lockerung vornehmen könnten, hat das Volumen der globalen Anleihen mit einer Rendite von unter null Prozent seit der Brexit-Entscheidung um eine Billion US-Dollar auf über elf Billionen US-Dollar erhöht“, erläutern die Experten von J.P. Morgan in einer aktuellen Studie.
Damit dürfte das Referendum zum Brexit die US-Börse indirekt sogar beflügeln – schließlich wurden auch die Renditen der Zinspapiere in Europa noch weiter in den Keller getrieben. Europas Anleger kaufen auf ihrer Suche nach einer besseren Alternative daher mehr US-Staatspapiere und haben deren Renditen im zehnjährigen Bereich auf ein Rekordtief von unter 1,5 Prozent getrieben.
David Bianco, Aktienstratege der Deutschen Bank, formuliert: „Die Bewertung der Aktien im S&P steht auf den Schultern der Anleihen.“ Bianco nennt ein paar Gründe, warum es sich trotz der ausgereizten Kurse immer noch lohnt, Aktien zu kaufen. Dazu gehören ein moderates, aber robustes Wachstum der US-Konjunktur, stabile und angemessene Bewertungen der Aktien gemessen an den Gewinnen und „Anleiherenditen von Null nach Abzug der Inflation“.
Anders gesagt: Allein schon die verzweifelte Suche nach Rednite sollte Anleger in Aktien treiben. Die Fortsetzung des Rekordlaufs an der Wall Street unterstützten am Dienstag auch die Quartalszahlen des Aluminiumkomzerns Alcoa, der traditionell als erstes Schwergewicht Einblick in seine Finanzkennzahlen gibt. Die Anteilsscheine legten über drei Prozent zu, nachdem das Unternehmen mit seinen Quartalszahlen am Vorabend die Erwartungen übertroffen hatte.
Nicht alle Experten teilen den Optimismus
Ob es zu einem nachhaltigen Ausbruch am US-Aktienmarkt kommt, dürfte nach Einschätzung der BNP Paribas besonders durch die US-Berichtssaison beantwortet werden. „Eng verbunden mit den Bilanzen ist auch die Frage, ob die hohen Bewertungen der amerikanischen Börsen fundamental untermauert sind“, geben die Analysten der französischen Bank zu bedenken. Die Bewertungskennzahlen hätten inzwischen historische Dimensionen erreicht: So liege das Kursgewinn-Verhältnis (KGV) des S&P 500 auf Basis der 2016er-Gewinnschätzungen bei knapp 18 und damit deutlich über dem mittel- bis langfristigen Durchschnitt von 14.
„Noch kritischer ist das Kurs-Umsatz-Verhältnis (KUV) zu sehen“, warnen die Fachleute. Denn während die Konzerne ihre Ergebnisse durch Sondereffekte beeinflussen könnten, sei die bei den Umsätzen nicht so einfach möglich. Im Klartext: Anleger sollten ihr Augenmerk lieber dieser verlässlicheren Kennzahl widmen, statt den oftmals künstlich niedrig gerechneten KGVs. Mittlerweile habe das KUV einen Wert von 1,9 erreicht und liege damit auf dem Niveau seines Allzeithochs aus dem Jahr 2000.
Auch die Strategen der DZ-Bank sehen die weitere Entwicklung der Unternehmenserträge als Risikofaktor für die Rallye an der Wall Street: Für die jetzt angelaufene Berichtssaison zum zweiten Quartal, die mit den Alcoa-Zahlen begonnen hat, erwarteten Experten inzwischen einem durchschnittlichen Gewinnrückgang um 6,2 Prozent. Seit Jahresanfang, als noch ein geringes Plus von einem halben Prozentpunkt erwartet worden war, seien die Prognosen kontinuierlich gefallen. Rekordkurse, das wird einmal mehr deutlich, sind kaum ohne rekordverdächtiges Risiko zu haben. Handelsblatt / Georgios Kokologiannis