Osteuropa - so nah und doch so attraktiv
China, Russland, Indien und Brasilien gelten unter den Volkswirtschaften gemeinhin als die Champions von morgen. Osteuropa liegt uns geografisch und kulturell jedoch viel näher. Und Anlegern hat die Region viel zu bieten. Doch Vorsicht: Die Staaten zwischen Baltikum und Schwarzem Meer befinden sich in höchst unterschiedlicher Verfassung.

Während man sich in Westeuropa mit einem gigantischen Staatsschuldenproblem und damit den Nachwehen der Finanzkrise auseinandersetzen muss, hat Osteuropa die Krise nach Auffassung der Europäischen Entwicklungsbank sowie der Weltbank überwunden. Das hat viel mit dem Wachstumstempo, der Demografie und dem Nachholpotenzial unserer östlichen Nachbarn zu tun.
Die Hausaufgaben wurden gemacht
Aber nicht nur. Vielerorts ist man die Probleme auch konsequenter angegangen als in Griechenland & Co.: „Die meisten zentral- und osteuropäischen Staaten wie Polen oder Tschechien stehen inzwischen auf solidem wirtschaftlichen Fundament“, kommentiert die österreichische Raiffeisen Capital Management die aktuelle Lage. Insbesondere mit Blick auf die Verschuldung können die Zentral- und Osteuropäischen Staaten (CEE) inzwischen punkten: Mit einer Staatsschuldenquote (Staatsverschuldung/BIP) von durchschnittlich 50% liegen die CEE deutlich unter dem Schnitt der westlichen Länder (85%). Zudem wurden weitere Ungleichgewichte beseitigt: „Die Leistungsbilanzdefizite, die in der Vergangenheit die Achillesferse einiger CEE-Länder darstellten, konnten abgebaut werden. Das Leistungsbilanzdefizit Rumäniens verringerte sich von fast 14% auf weniger als 5% des BIP, jenes Kroatiens von 7% auf 1,4% und in Ungarn wurde aus dem Defizit von 7% des BIP im Jahr 2007 ein Überschuss von 2,8%. Dies hat den Bedarf der CEE-Länder an frischem Auslandsgeld, der sie in der Vergangenheit so angreifbar machte, wesentlich reduziert. Hier wurden Fortschritte viel rascher als in manchen Peripherieländern erreicht“, so Juraj Kotian, Co-Head Macro/Fixed Income Research CEE bei der Erste Group.
Wachstumsmotor Ost
Die Wachstumsprognosen für die Region sind ebenfalls ermutigend. Wie das Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche (WIIW) kürzlich mitteilte, dürften die zehn neuen osteuropäischen EU-Länder 2012 mit 2,4% zwar etwas geringer als dieses Jahr (3%) wachsen, sie liegen damit aber noch immer deutlich über dem EU-Durchschnitt: Eurostat erwartet für die EU-15-Staaten ein Konjunkturplus von 0,5% im kommenden Jahr. Das höchste Wachstum wird 2012 für Polen (3,3%) und die drei baltischen Staaten erwartet. Am schwächsten dürfte die Entwicklung in Ungarn verlaufen. Noch deutlich stärker wachsen demgegenüber die Staaten in der Region, die nicht zur EU zählen: Die Türkei dürfte im laufenden Jahr um rund 8% und Russland um 3,7% wachsen. Nach Prognosen der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD) könnten im kommenden Jahr Weißrussland, die Ukraine und Moldawien mit durchschnittlich 6% Wachstum die Aufholjagd anführen.
Einstieg rückt näher
Trotz der positiven Entwicklung schnitten die osteuropäischen Aktienmärkte 2011 bislang unterdurchschnittlich ab: „Auch die Aktienmärkte der CEE-Länder hatten unter dem globalen Abwärtstrend zu leiden und seit Jahresbeginn kommt es in vielen Bereichen zu Einbrüchen. Die Spanne reicht hier von –8% in Kroatien bis –40% in der Ukraine“, so Peter Brezinschek, Leiter Research der Raiffeisen Bank International (RIB), Anfang Oktober. Der Grund für die schlechte Performance ist die zunehmende Risikoscheu der Anleger. Volatile Schwellenländerinvestments stehen bei vielen gebeutelten Investoren auf den Verkaufslisten ganz oben und viele Marktteilnehmer, die den CEE auf dem Höhepunkt der Finanzkrise den Rücken gekehrt hatten, sind bislang noch nicht zurückgekehrt. Daher rechnet Brezinschek damit, dass der Negativtrend noch bis ins Frühjahr des nächsten Jahres anhalten dürfte: „Wir glauben, dass die Märkte die Talsohle erst dann überwunden haben werden, wenn für die Länder an der Peripherie der Eurozone ein Neubeginn gesichert ist. Angesichts der ersten zarten Anzeichen einer wirtschaftlichen Stabilisierung dürfte es im zweiten Halbjahr 2012 zu einer Wende kommen.“ Kleinanleger sollten sich daher mit umfangreicheren Aktienkäufen noch zurückhalten. Erfahrene Spekulanten können jedoch zwischenzeitliche Sell-offs zum Aufbau erster Positionen nutzen.
Stark heterogene Region
Doch wo Licht ist, ist auch Schatten. Tatsächlich läuft es in einigen Staaten Osteuropas alles andere als rund. Insbesondere Ungarn, Slowenien und die Slowakei leiden immer stärker unter der Verschärfung der Krise in Europa. Mit Ausnahme Ungarns, das seit Längerem auf hausgemachten Schwierigkeiten sitzt, lassen sich die Probleme der anderen beiden Staaten gerade auf die starke Ausrichtung und erfolgreiche Einbindung in die europäische Wirtschaftszone zurückführen. Nach neuesten Prognosen der EBRD dürften Ungarn, Slowenien und die Slowakei im kommenden Jahr daher nur knapp an der Rezession vorbeischrammen. Nur geringfügig besser sieht es für Rumänien aus: Zwar droht keine Rezession, die Wachstumsprognose für das Land wurde jedoch deutlich zurückgenommen. Ganz genau wird die Entwicklung der Region bei unserem südlichen Nachbarn Österreich verfolgt. Österreichische Unternehmen zählen in Ungarn, Rumänien & Co. zu den größten Investoren.
Österreich stark vertreten
Österreichische Unternehmen gehörten zu den Ersten, die die Chancen der Ostöffnung erkannt und erfolgreich genutzt haben. Bereits über 23% der Warenexporte der Alpenrepublik gehen heute nach Mittel- und Osteuropa und über 20% des österreichischen BIP wurden in den letzten Jahren in Mittel- und Osteuropa investiert. Damit gehören österreichische Unternehmen nicht nur zu den größten Investoren in der Slowakei, Tschechien und Ungarn, sondern sind auch für den größten Teil der Direktinvestitionen in Bosnien-Herzegowina, Slowenien, Bulgarien, Rumänien, Serbien und Kroatien verantwortlich. Rund 0,5% bis 1% des jährlichen Wirtschaftswachstums Österreichs lässt sich direkt auf die Osterweiterung und den EU-Beitritt zurückführen. Stark engagiert sind dort auch die österreichischen Kreditinstitute.
Banken im Abwärtsstrudel
Wie aus einem Bericht der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ hervorgeht, haben österreichische Institute in der Region Darlehen mit einem Volumen von rund 250 Mrd. Euro vergeben. Dementsprechend sahen und sehen sich die Banken mit einem hohen Abschreibungsbedarf konfrontiert. Um die Risiken zu begrenzen, gibt es seit Kurzem neue Auflagen für das Kreditgeschäft: Die Oesterreichische Nationalbank (OeNB) und die Finanzmarktaufsicht (FMA) haben vor wenigen Tagen neue Regelungen „zur Stärkung der Nachhaltigkeit der Geschäftsmodelle“ österreichischer Banken in der CEE-Region erlassen. Diese bestehen im Wesentlichen aus verschärften Eigenkapitalanforderungen und Refinanzierungsvorschriften der lokalen Tochtergesellschaften. Sowohl Abschreibungen als auch die erhöhten Eigenkapitalerfordernisse kosten naturgemäß Geld. Es ist daher kein Wunder, dass sich die Kurse der beiden börsennotierten Institute (Erste Group und RBI) bereits seit Längerem auf Talfahrt befinden und aktuell nahe ihren historischen Tiefstständen gehandelt werden. Angesichts der Risiken im Finanzsektor allgemein und den sich aus dem starken Osteuropa-Engagement ergebenden Klumpenrisiken sind Investments in österreichische Institute mit einem erhöhten Risiko verbunden.
Fazit
Auch wenn es angesichts der Turbulenzen an den Finanzmärkten aus dem Blickfeld geraten ist, handelt es sich bei den CEE-Staaten insgesamt um eine äußerst attraktive Anlageregion, die mittelfristig wieder auf den Konvergenzpfad einschwenken dürfte. Erfahrene Anleger, die sich der Risiken bewusst sind, können die derzeitige Schwäche nutzen, um erste Positionen aufzubauen. Sobald sich die Staatsschuldenkrise beruhigt hat, stellen aktiv gemanagte Fonds mit klarem CEE-Fokus und gutem Track Record Anlagemöglichkeiten für konservative Anleger dar.