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60 Millionen handbemalte Sonnenblumenkerne

Der weltweit als Künstler, Architekt, Kurator, Filmregisseur und Fotograf gefeierte Ai Weiwei präsentiert in Düsseldorf seine aktuelle Ausstellung. Unter dem Motto „Alles ist Kunst, alles ist Politik“ zeigt die Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen seine bisher größte Werkschau in Europa. Ai Weiwei konfrontiert die Besucher mit Geschichten von Unterdrückung, Flucht, Verfolgung und seiner populären Mittelfinger-Pose, die nun auch Volkswagen zu Gesicht bekommt. Kein Zweifel, der chinesische Künstler versteht sich darauf, seine Botschaften mit starken Bildern zu versehen.

BÖRSE am Sonntag

Der weltweit als Künstler, Architekt, Kurator, Filmregisseur und Fotograf gefeierte Ai Weiwei präsentiert in Düsseldorf seine aktuelle Ausstellung. Unter dem Motto „Alles ist Kunst, alles ist Politik“ zeigt die Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen seine bisher größte Werkschau in Europa. Ai Weiwei konfrontiert die Besucher mit Geschichten von Unterdrückung, Flucht, Verfolgung und seiner populären Mittelfinger-Pose, die nun auch Volkswagen zu Gesicht bekommt. Kein Zweifel, der chinesische Künstler versteht sich darauf, seine Botschaften mit starken Bildern zu versehen.

Das ist die größte Ai Weiwei-Ausstellung, die Europa je gesehen hat. Und diesmal ist Größe auch Programm: Im K20 und K21 zeigt der chinesische Künstler über 40 seiner bedeutendsten Werke. Mit großflächigen Installationen macht Ai Weiwei auf Missstände und Widersprüche der Gegenwart aufmerksam. Ziel sei es gewesen, seine politischsten Arbeiten zu zeigen, so Susanne Gaensheimer, Leiterin der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen und Mitkuratorin der Ausstellung. Entstanden ist eine Werkschau, die den schlichten Namen „Ai Weiwei“ trägt, inhaltlich die Unterdrückung durch politische Systeme thematisiert und mit der Wechselwirkung von Element und Masse spielt. Kurzum: Ai Weiwei fragt nach der Stellung des Einzelnen in der Gesellschaft.
 
In den großen Hallen des K20 zeigt Ai Weiwei seine Schlüsselwerke „Straight“ und „Sunflower Seeds“ zum ersten Mal in ihrer vollständigen Form gemeinsam in einer Ausstellung. Die Installation „Straight“ besteht aus 164 Tonnen Armierungseisen, die der Künstler nach dem verheerenden Erdbeben von Sichuan 2008 aus eingestürzten Schulgebäuden bergen ließ. Rund 5000 Schulkinder verloren damals ihr Leben unter den Trümmern. In einem zeit- und kostenaufwendigen Bearbeitungsprozess wurden die verbogenen Stahlstäbe wieder geradegebogen – daher auch der englische Titel „Straight“, der so viel wie „zurechtgerückt“ oder „geradeheraus“ bedeuten kann. Die eindrucksvolle Arbeit, dessen Schlichtheit und Monumentalität einen eigenen, sehr großen Raum verlangt, ist eine Mahnung an die Katastrophe und den Verdacht, dass Verantwortungslosigkeit, Schlamperei und Korruption Gründe für den Einsturz der Schulgebäude gewesen seien. Der in Peking geborene Konzept-Künstler zeigt das durch Mittelmänner geborgene Material in geöffneten Transportkisten, deren Anordnung dem Verlauf einer seismographischen Linie folgt und die Assoziation offenstehender Särge auslöst. Die Wände bedecken die Namen der Schüler, die während des Erdbebens ums Leben kamen.
In der benachbarten Ausstellungshalle präsentiert Ai Weiwei das Kunstwerk „Sunflower Seeds“ – ein Meer aus über 60 Millionen handgefertigten und individuell bemalten Sonnenblumenkernen. Das chinesische Porzellan wurde von 1.600 Kunsthandwerkinnen und -handwerkern in Jingdezehn, einer traditionsreichen Produktionsstätte für Porzellan, in einem Zeitraum von zweieinhalb Jahren hergestellt. Auf rund 650 qm spielt das Werk mit dem Gegensatz von Einzelelement und Gesamtform, von Individuum und Masse. Auch eine politische Interpretation liegt nahe, weil Mao Zedong, ehemaliger Vorsitzende der Kommunistischen Partei Chinas, in der Propaganda des Staats als Sonne dargestellt wurde. Die Bevölkerung sollte sich nach dem Diktator ausrichten, wie es die Sonnenblume nach der Sonne tut. Immer wieder verweist Ai Weiwei auf Vorstellungen individueller Freiheit in politischen Systemen. So auch mit Arbeiten, die im K21 ausgestellt werden. Dieser Teil der Werkschau zeigt Kunstwerke aus den letzten fünf Jahren, die vor allem das Schicksaal von Geflüchteten thematisieren, und spannt einen Bogen von Ai Weiweis frühesten künstlerischen Schritten über seine Zeit in New York (1983-1993) bis hin zu seiner Verhaftung 2011 und der darauf folgenden Überwachung. Nachdem der Künstler 81 Tage in Haft verbrachte, verlangte der chinesische Staat von seiner Firma die umgehende Begleichung einer angeblichen Steuerschuld von umgerechnet 1,7 Millionen Euro. Mithilfe privater Spenden konnte diese Summe bezahlt werden. Im Gegenzug hat Ai Weiwei künstlerisch gestaltete Schuldscheine entworfen, die im Rahmen der Ausstellung als Wandtapete dienen. Neben dem Namen der Spender sind Sonnenblumenkerne und Alpaka-Briefmarken zu sehen. Sämtliche Spenden wurden von Ai Weiwei zurückgezahlt.
 
„Life Cycle“, ein Boot mit mehr als 100 überlebensgroßen Figuren aus Bambus, dient als weiteres zentrales Element der Ausstellung. Mit der über 17 Meter langen fragilen, fast transparenten Skulptur aus Bambus und Sisalgarn stellt Ai Weiwei eindringlich die lebensbedrohliche Route vieler Geflüchteter über das Mittelmeer dar. Einige der Köpfe der Geflüchteten haben sich in Figuren der chinesischen Tierkreiszeichen verwandelt und verweisen metaphorisch sowohl auf das Ausmaß der menschlichen Krise als auch auf den Kreislauf menschlichen Lebens. Das Werk „Laundromat“ ist vor dem Hintergrund der Geschehnisse im griechischen Flüchtlingslager Idomeni entstanden. Ai Weiwei, der dort seinen Dokumentarfilm „Human Flow“ drehte, ließ über 2000 zurückgelassene Kleidungsstücke in sein Atelier nach Berlin bringen und sorgfältig aufarbeiten. Sie wurden gewaschen, geflickt, gebügelt und katalogisiert. Auf einfachen Kleiderständern wirken sie wie das Angebot eines Kaufhauses oder Stücke in einem Waschsalon, die auf ihre Abholung warten. Im Ausstellungsraum konfrontieren sie die Besucher mit ihrer Realität und der Geschichte von Unterdrückung, Flucht, Verfolgung und Leid.
 
Fast schon als Markenzeichen Ai Weiweis gilt der ausgestreckte Arm mit Mittelfinger-Pose, den er plakativ an symbolischen Orten wie Regierungsgebäuden aus der eigenen Perspektive ablichtet. Das Weiße Haus, der Eifelturm oder der Bundestag – sie alle wurden unfreiwillig zum Projektionsobjekt seiner Ablehnung. So auch das VW-Logo, das er jüngst mit Stinkefinger und ernster Miene auf Instagram veröffentlicht hat. Der Künstler kritisiert den Volkswagen-Konzern dafür, dass er dauerhaft bestrebt sei, seine Marktanteile in China zu vergrößern, gleichzeitig aber die prekäre Menschenrechtslage in der Volksrepublik ignoriere. Ai Weiwei selbst befindet sich derzeit mit dem Wolfsburger Autobauer aber deshalb im Rechtsstreit, weil Volkwagen auf vermeintliche Urheberrechtsverletzungen im Zusammenhang mit einer Werbung im Vordergrund eines Kunstwerkes Ai Weiweis lediglich in „arroganten Gesten geübt, um die eigene Schuld zu trivialisieren und die ganze Sache herunterzuspielen“, so der Künstler. Bei dem Kunstwerk namens „Soleil Levant“, das auf ein Gemälde gleichen Namens des französischen Impressionisten Claude Monet anspielt, handelt es sich um eine Installation aus 3500 Schwimmwesten, die an der Fassade von Kopenhagens Kunsthalle Charlottenburg angebracht wurden. Mit dieser Aktion wollte der Künstler auf die Flüchtlingsproblematik, die sich thematisch durch eine Vielzahl seiner Arbeiten zieht, verweisen. Weil Volkwagen Ai Weiwei offenbar weder fragte, ob das Werk in der Werbung gezeigt werden darf, noch den Namen des Urhebers nannte, hat sich Ai Weiwei zur Klage entschlossen, über die nun in Dänemark verhandelt wird – Ausgang offen.
 
Kritiker werfen Ai Weiwei vor, er würde sich mit Teilen seiner Werke an der Grenze zum Peinlichen, als Märtyrer, inszenieren und mit seiner Person zu viel Aufmerksamkeit absorbieren, wodurch die eigentliche Intention der Arbeiten verloren gehe. Auch die sechs minimalistischen Eisenkisten, dessen Innenleben den durch Menschenrechtsverletzungen und Unterdrückung gekennzeichneten Haft-Aufenthalt des Künstlers dokumentieren, rücken die Person Ai Weiwei in den Mittelpunkt der Betrachtung. Tatsächlich bewegt sich der Künstler damit nicht an einer Grenze peinlicher Selbstdarstellung, sondern bleibt seiner künstlerischen Linie treu: Der Einzelne im Kontext der Gesellschaft.
 
Florian Spichalsky

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