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Droht der Türkei der ökonomische Kollaps?

Die türkische Lira befindet sich quasi im freien Fall, die Inflation liegt mit rund 16 Prozent auf dem höchsten Stand seit 2004. Dass die Türkei fest in der Krise steckt scheint offenkundig. Ein Zusammenbruch könnte vor allem politisch katastrophale Folgen haben. Und das nicht nur für die Türkei selbst. Worauf Anleger jetzt achten sollten.

BÖRSE am Sonntag

Die türkische Lira befindet sich quasi im freien Fall, die Inflation liegt mit rund 16 Prozent auf dem höchsten Stand seit 2004. Dass die Türkei fest in der Krise steckt scheint offenkundig. Ein Zusammenbruch könnte vor allem politisch katastrophale Folgen haben. Und das nicht nur für die Türkei selbst. Worauf Anleger jetzt achten sollten.

Von Martin Lück und Felix Herrmann

Die Währungskrise in der Türkei hat sich lange abgezeichnet. Vorbei sind die Zeiten, in denen das Land am Bosporus als Musterschüler galt, nachdem es sich mit Hilfe des IWF aus der tiefen Wirtschaftskrise des Jahres 2001 herausgearbeitet hatte. Einer der maßgeblichen Architekten der Erholung war Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan, der mit seiner AKP 2002 das Ruder übernommen hatte. Im Jahr 2009 konstatierte er stolz, die türkische Wirtschaft sei nun wieder gesund genug, um „ohne Krücken zu laufen“. Der IWF ging von Bord.

Seit die Türkei aber ohne fremde Auflagen ihre Wirtschaftspolitik bestimmt, haben die Instabilitäten wieder zugenommen. So setzte die Regierung im Bestreben, möglichst schnell zu wachsen, auf ausländisches Kapital. Ein ausuferndes Leistungsbilanzdefizit und immer höhere Inflation wurden zu chronischen Begleitern der angestrebten und tatsächlich erreichten Steigerung des Wohlstandes. Zwischen dem Tiefpunkt zu Beginn der 2000-er Jahre und dem Abschied des IWF knapp eine Dekade später verdreifachte sich das Pro-Kopf-Einkommen. 2007 und 2011 wurde die AKP mit haushohen Wahlsiegen belohnt.

2015 ließ Erdogan friedliche Proteste im Istanbuler Gezi-Park, bei denen es auch um Vorwürfe persönlicher Bereicherung mit Immobilientransaktionen ging, gewaltsam niederschlagen. Spätestens der im Juli 2016 spektakulär gescheiterte Putschversuch einiger Militärs gab Erdogan dann die Chance zum Befreiungsschlag: Der Ausnahmezustand wurde verhängt, unliebsame Journalisten, Intellektuelle und Ausländer inhaftiert, und der inzwischen ins Präsidentenamt gewechselte Erdogan ließ sich mit Unterstützung nunmehr gleichgeschalteter Medien per Referendum im Jahr 2017 eine quasi unbegrenzte Machtfülle zusichern. Rechtzeitig vor Beginn der gegenwärtigen Krise, am 24. Juni, ließ er Neuwahlen ansetzen, die er – offenbar aber nicht ganz ohne Manipulationen – erneut für sich entschied.

Währungskrise und Trump-Effekt

Bereits vor dem Referendum 2017 hatte sich die ökonomische Lage in der Türkei verschärft, was eher im Verborgenen blieb, da die Volkswirtschaft dank der hohen Staatsausgaben weiter stark wuchs. Im Jahr 2017 war die Türkei sogar das Land mit dem stärksten Wachstum innerhalb der G20. Allerdings stiegen gleichzeitig das Leistungsbilanzdefizit und damit die Abhängigkeit von ausländischem Kapital. Die Inflation notiert inzwischen mit fast 16 Prozent auf dem höchsten Stand seit 2004 und die Lira befindet sich seit längerer Zeit im Abwärtsstrudel.

Damit aber noch nicht genug. Die Währungsreserven der Türkei, die Mitte 2014 noch bei über 110 Mrd. US-Dollar gelegen hatten, sind Ende Juni 2018 auf gut 74 Mrd. abgeschmolzen. Damit deckten sie bereits vor der jüngsten Eskalation nur rund ein Drittel des türkischen Finanzierungsbedarfs in Fremdwährung in den kommenden 12 Monaten. Der Trump-Effekt, also die Verhängung von Zöllen wegen der fortgesetzten Inhaftierung des US-Priesters Andrew Brunson, war wohl nur der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.

Auswirkungen der Krise

Während die aktuelle Lage der Türkei also bedenklich anmutet, stellt sich die Frage nach den möglichen internationalen Auswirkungen der Krise. Hierbei unterschieden wir direkte Auswirkungen auf EM-Aktienindizes, Ansteckungsgefahren für andere Schwellenländer, Kreditausfallrisiken bei Banken sowie Auswirkungen auf Handelsströme.

Auswirkungen auf EM-Aktienindizes: Die letzten Tage und Wochen haben einerseits gezeigt, dass die Krise in der Türkei nicht spurlos an den Märkten im Allgemeinen und dem Segment der Emerging Markets im Speziellen vorbeigeht. Andererseits ist die Türkei selbst innerhalb des Schwellenländeruniversums nicht bedeutsam genug, als dass nachhaltige Ansteckungseffekte rational erklärbar wären. Mit rund 900 Milliarden US-Dollar macht die Wirtschaftsleistung der Türkei weniger als ein Prozent des globalen BIPs aus. Im MSCI Emerging Markets Aktienindex zeigen sich türkische Aktien nur für rund ein halbes Prozent der Gesamtmarktkapitalisierung verantwortlich.

Ansteckungseffekte unter Schwellenländern könnten sich dort ergeben, wo Investoren ähnlich gelagerte Parameter beobachten, also etwa hohe Inflation, Leistungsbilanzdefizite, geringe Währungsreserven oder Abhängigkeiten etwa von Energieimporten. Der zwischenzeitlich massive Einbruch der indischen Rupie beispielsweise legt nahe, dass Investoren einige dieser Symptome als Ansteckungskanäle identifiziert hatten.

Kreditausfallrisiken bei Banken: Problematischer in Sachen möglicher Ansteckungseffekte erscheint hingegen das Türkei-Exposure einiger europäischer Banken. In Summe belaufen sich die Forderungen europäischer Geldhäuser gegenüber der Türkei auf rund 175 Milliarden Euro. Gerade spanische Banken sind nach Zahlen der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) stark mit circa 80 Milliarden Euro in der Türkei engagiert. Für eine systemische Krise erscheint das Banken-Exposure aber nicht groß genug und das Risiko beherrschbar.

Auswirkungen auf Handelsströme: Bleibt das Risiko für den Handel. Aber auch hier wird bei Betrachtung der Fakten schnell deutlich: Die Handelsverflechtungen der Türkei mit dem Rest der Welt bergen kaum Sprengstoff: Innerhalb des EM-Segments machen lediglich im Falle von Vietnam und Malaysia Exporte in die Türkei mehr als ein Prozent der Wirtschaftsleistung aus. Auch aus Sicht der deutschen Exportwirtschaft ist die Türkei ein eher nachrangiger Handelspartner. Während Deutschland aus Sicht der Türkei nach China der zweitwichtigste Exportmarkt ist, gingen in 2017 gerade einmal deutsche Ausfuhren im Gegenwert von 21,5 Milliarden Euro in die Türkei.

Fazit

Aus unserer Sicht wäre es fahrlässig, das Risiko eines ökonomischen Kollaps der Türkei zu unterschätzen. Mit dem ökonomischen Niedergang wäre nämlich vermutlich eine politische Destabilisierung verbunden. Im Fall einer rapiden ökonomischen Verschlechterung könnte schnell ein Machtvakuum entstehen. Ein erneutes Greifen nach der Macht seitens des Militärs könnte dann nicht ausgeschlossen werden.

Gefährlich ist dies für Europa vor allem wegen der besonderen strategischen Position der Türkei. Das Land bildet quasi einen Puffer zwischen der Europäischen Union (Landgrenzen zu Bulgarien und Griechenland) und dem Mittleren Osten. Allein aus dem Bürgerkriegsland Syrien beherbergt die Türkei derzeit rund 3,5 Millionen Flüchtlinge. Sollte eine ökonomisch geschwächte Türkei nicht mehr in der Lage sein, diesen Flüchtlingen weiterhin Unterschlupf zu gewähren, könnte eine erneute Wanderung einsetzen.

Darüber hinaus könnte sich eine wirtschaftlich in die Enge getriebene Türkei andere und aus europäischer Sicht ambivalent zu sehende Partner suchen. Russland etwa hat schon immer ein strategisches Interesse am Bosporus gehabt und auch China bietet die Türkei einen willkommenen Korridor auch räumlich nah an den Rivalen Europäische Union heranzurücken. Die Bereitschaft Recep Tayyip Erdogans, derartige Allianzen zu suchen, sollte nicht unterschätzt werden. Die spontane Unterstützung seitens Katar in Form eines 15 Mrd. US-Dollar Kredits ist ein erster Hinweis in dieser Richtung.

Selbst wenn wir also zu dem Schluss kommen, die naheliegenden ökonomischen Auswirkungen einer Türkeikrise (Handelsbeziehungen, Bankkredite, Ansteckung anderer Schwellenländer) seien beherrschbar, so hat Europa dennoch ein erhebliches strategisches Interesse an einer stabilen Türkei. Wirtschaftliches Entgegenkommen seitens der EU halten wir daher für wahrscheinlicher als ein formales Eingreifen des IWF oder das selbstbestimmte Umschwenken auf einen drastischen Konsolidierungskurs, der vermutlich in die Rezession führen und Erdogan das Amt kosten würde.

Martin Lück und Felix Herrmann sind Kapitalstrategen beim Vermögensverwalter BlackRock.