Joe der Baumeister
Die Quartalszahlen der Siemens AG sind solide. Doch was steckt substantiell tatsächlich dahinter? Kann der Konzern sich im hart umkämpften globalen Technologie- und Industrie-Wettbewerb weiterhin als deutsches Vorzeigeunternehmen präsentieren oder fehlt der Traditionsfirma vielleicht die Kreativität Berliner Startups oder die Frische von Silicon-Valley-Projekten?
Die Quartalszahlen der Siemens AG sind solide. Doch was steckt substantiell tatsächlich dahinter? Kann der Konzern sich im hart umkämpften globalen Technologie- und Industrie-Wettbewerb weiterhin als deutsches Vorzeigeunternehmen präsentieren oder fehlt der Traditionsfirma vielleicht die Kreativität Berliner Startups oder die Frische von Silicon-Valley-Projekten?
Die Siemens-Zentrale am Wittelsbacherplatz in der Münchener Innenstadt ist wie eine Metapher für die Lage des gesamten Unternehmens. Das „rosa Palais“ – wie das Palais Ludwig Ferdinand liebevoll von den Siemensianern genannt wird – ist zentral im Münchener Stadtkern gelegen. Von zentraler Bedeutung ist auch der Industriekonzern für die deutsche Wirtschaft. In der vergangenen Woche veröffentlichten viele DAX-Konzerne schwache Geschäftszahlen - Siemens glänzte. Natürlich zählt der von München aus gelenkte zu den wichtigsten, den Kernunternehmen der Bundesrepublik.
Die Nähe zur Politik ist ebenfalls unverkennbar. Denn wenn der bayerische Ministerpräsident in seiner landesväterlichen Art CEO Joe Kaeser lobt und sagt „Siemens macht sich fit für die Zukunft“, dann wird deutlich, welche Bedeutung der Mischkonzern für die Volkswirtschaft hat. So ist es wohl kein Zufall, dass das 1826 erbaute Siemens-Palais kaum mehr als hundert Meter vom heutigen Bayerischen Innenministerium entfernt ist. Im vergangenen Monat reiste Kaeser mit der Kanzlerin nach China, um die deutsch-chinesischen Wirtschaftsbeziehungen zu forcieren.
Die symbolischste Verknüpfung zwischen dem Stadtpalais und Siemens sind die Kräne, die sich über ihm erheben. Denn Siemens baut um. Strukturell und gebäudetechnisch. Es ist ein Großprojekt, das sich der Konzern und seine Immobilienverwaltung Siemens Real Estate da vorgenommen haben. Das Palais wird komplett entkernt und der dahinter entstehenden modernen Konzernzentrale angeschlossen. Für den Passanten, der am Reiterdenkmal von Maximilian I. in Richtung Palais blickt, ändert sich fast nichts. Denn die Fassade des denkmalgeschützten Gebäudes bleibt erhalten. Die Veränderungen stehen im wesentlichen innen an. Siemens-Kunden und Münchener Palais-Passanten haben dabei eine gewisse Gemeinsamkeit in der Kontinuität: Denn an der Produktpalette des Multikonzerns wird sich auch nicht viel ändern.
Ebenfalls nach innen wirkt sich die „Siemens Vision 2020“ aus. Ab 1. Oktober diesen Jahres wird der Schalter für ein neues Zeitalter gekippt. „Mal wieder“, denkt manch alteingesessener Siemensianer, der in den vergangenen Jahren mehr als einen Zyklus des Umbruches mitgemacht hat. Die Stellen- und Abteilungsbezeichnungen wurden dabei länger und länger. Ein Buchstabensalat, der sich mitunter auch in den Köpfen festgesetzt hat. Damit soll nun Schluss sein. Der niederbayerische CEO will klare Strukturen schaffen, um eindeutige Ziele und Visionen zu verfolgen. Nach einem Jahr Amtszeit und einigen Grundsatzreden, kann Kaeser aber noch keine Hurra-Erlebnisse vorweisen. „You never walk alone“ hat er bei seiner Antrittsrede den Mitarbeitern zugerufen. Dass Arbeitsplätze wegfallen werden, ist trotzdem offensichtlich. Nur: genaue Angaben, etwa zur Anzahl der Streichungen bis 2016, will der Vorstandsvorsitzende noch nicht machen. Dabei wäre bei den 357.000 Mitarbeitern ein freier Kopf, um sich auf die hinreichenden Herausforderungen konzentrieren zu können, wohl Gold wert.
Solide Q3-Zahlen
Wie wertvoll die Geldanlage in Siemens-Aktien momentan ist, klärte sich teilweise am vergangenen Donnerstag. Denn da präsentierte das Unternehmen in München die Zahlen zum dritten Geschäftsquartal. Diese sind sogar für Pessimisten noch solide und passen gut in den Rahmen der Vision 2020: Die Münchener haben eine Gewinnsteigerung von rund einem Drittel auf 1,37 Milliarden Euro erreicht. Das klingt gewaltig, ist aber bei genauerem Hinsehen nicht problemfrei. Denn das 27-prozentige Plus im Vergleich zum Vorjahr wird kleiner, wenn man bedenkt, dass damals gut 400 Millionen Euro an Restrukturierungskosten mit dem Quartalsergebnis verrechnet wurden. Doch in fast in allen Bereichen konnte Siemens ordentliche Ergebnisse vorlegen, die den Erwartungen der Analysten entsprachen oder sogar besser waren. Einzig der Energiesektor macht Siemens ernsthaft zu schaffen. Dieser stehe vor „anhaltenden Herausforderungen in den nächsten Quartalen“, so Joe Kaeser. Zwar steigerte der Konzern seine Auftragseingänge in diesem Bereich deutlich, doch die Umsatzerlöse fielen um zwei Prozent, sodass das Ergebnis schließlich 405 statt 430 Millionen im Vorjahr beträgt. Siemens bekräftigte am Donnerstag auch die Prognose für das gesamte Jahr 2014. Kaeser hat sich zu seinem Jubiläum der einjährigen Amtszeit damit auch selbst beschenkt. Man sei auf einem richtigen Weg, hieß es aus München.
Das gilt auch für die Entwicklung des Bauvorhabens am Palais Ludwig Ferdinand. Dieses ist insofern sinnbildlich für Siemens, da es nach dem Umbau zwar äußerlich klassizistisch und traditionell aussieht, in den Innenräumen aber hochmodern sein wird. Schließlich weist auch die Unternehmung Siemens eine sehr lange Tradition auf. Seit 1847 wird die Welt aus diesem Hause um mannigfaltige Technologien bereichert. Intern feierte die Siemens-Welt gerade den 200. Geburtstag des umtriebigen Johann Georg Halske, der zusammen mit Werner von Siemens die frühen Jahre der Siemens-Erfindungen prägte. So fuhren in London bereits 1891 Siemens-Loks durch die U-Bahn-Tunnel. Bis heute sind Züge ein Kerngeschäft des Konzerns. Die Quartalsergebnisse des Industry-Sektors waren auch deswegen so überzeugend, weil die Auftragseingänge in dieser Sparte um fünf Prozent zulegten: „Vor allem aufgrund von […] Aufträgen aus dem Zuggeschäft“, kann Siemens Industry positiv auf das vergangene Vierteljahr zurückblicken.
Keine Zukunft ohne Herkunft
Doch so traditionsreich und herkunftsbewusst wie Siemens und seine Mitarbeiter heute sind, so innovativ und fortschrittlich muss das Unternehmen gleichzeitig sein. Manche Branchenexperten wollen dem Konzern mit Doppelsitz in München und Berlin gar die Rolle eines Pendants zu Google und anderen amerikanischen IT-Firmen zuweisen. Mit rund 17.500 Software-Entwicklern ist der deutsche Technologiekonzern in diesem Bereich fast gleichauf mit Google. Doch während die Computernerds im Silicon-Valley nach neuen Algorithmen suchen, um digitale Fußabdrücke zu analysieren, kümmern sich Siemensianer beispielsweise um die intelligente Vernetzung und Datenauswertung von Windturbinen in Offshore-Parks.
Allmählich hat der deutsche Tech-Konzern auch einen Fuß in der Tür des kalifornischen Technologie-Wunderlands. Dort versucht Siemens demnächst vom kreativen Umfeld diverser Startups zu profitieren und installiert dazu eine Art Think-Tank vor Ort. Auch der Bereich Energy-Managements wird seit August unter der Führung von Lisa Davis von Übersee aus geführt. Von der ehemaligen Shell-Managerin erhofft man sich intern eine Kehrtwende im Energy-Geschäft.
Am 1. Oktober wird mit einem Schlag die Sektorenebene in der Organisations-Struktur abgeschafft. Bei Siemens ist man Sicherheit gewohnt, die Mitarbeiter schätzen dies und sorgen sich bei jeder Veränderung.
Das mag zwar für ein Unternehmen, das sich an Innovationen und neuen Ideen messen lässt, eigenartig klingen. Doch Beständigkeit und Langfristigkeit wird bei Siemens großgeschrieben. Zwar ist dieser Umbruch schon seit einigen Monaten angekündigt, doch von Arbeitnehmerseite noch nicht vollends akzeptiert. Es herrscht Verunsicherung. Und diese rührt nicht allein von der Angst des Stellenabbaus. Flexibilität ist eine Eigenschaft, die bislang eher selten mit Siemens in einem Satz verwendet wurde. Einen dieser seltenen Fälle konnte man jedoch vor einigen Wochen beim geplatzten Alstom-Deal beobachten. So präsentierte es zumindest CEO Kaeser. Denn im Anschluss an das verpasste Geschäft – GE überbot Siemens im Übernahmepoker – bedankte er sich bei seinen Mitarbeitern in einem offenen Brief für die „außerordentliche Termin-Flexibilität“, die zeige, dass Siemens „zu jeder Zeit handlungsfähig“ sei. Überhaupt demonstrierte in jenen Tagen die Kommunikations-Abteilung in München auf eindrucksvolle Weise, wie man einen zunächst kritischen Vorgang ins Positive drehen kann. Die Presse war hernach fast einhellig der Meinung, dass der Ausgang des unvollendeten Alstom-Rendezvous für Siemens positiv zu bewerten sei.
Nichts dem Zufall überlassen
Siemens arbeitet akribisch – und dies über die vielen Abteilungen und Standorte hinweg. Die unausgesprochene Marschroute könnte „nichts dem Zufall überlassen“ lauten. Siemensianer folgen diesem Ideal fast unnachahmlich. Problematisch wird es, wenn Momentum oder Reaktionsschnelligkeit verloren gehen. In der Technologie-Branche kann dies schnell zur Gefahr werden, denn die Konkurrenz um General Electric ist nicht nur stark, sondern zuweilen stärker als der deutsche Vorzeigekonzern.
Die Kernthemen der nächsten Jahren hat Siemens in der „Vision 2020“ niedergeschrieben. So orientiert sich der Mischkonzern an den Schlagwörtern Elektrifizierung, Automatisierung und Digitalisierung. Was damit konkret gemeint ist, erläutern zwei Beispiele: In der Nähe von Wien entsteht eine sogenannte „Smart City“: Der Ort Aspern wird dabei zu einem lebenden Labor. Hochmoderne Wohnhäuser, Schulen und Industriegebäude sollen sich in intelligenter Weise an ihre Umwelt anpassen. So wird der Energieverbrauch einer Schule außerhalb der Schulzeiten gedrosselt oder die Beheizung von Wohngebäuden je nach Jahreszeit und mithilfe von Wettervorhersagen reguliert. Bei der Bevölkerung scheint umweltfreundliches Wohnen beliebt zu sein. Dass sie dabei Gegenstand eines Labors sind und unter Beobachtung stehen, scheint die Wiener nicht zu stören. Der Andrang auf die Wohnungen in Aspern ist enorm.
Noch ein kleines Stückchen weiter in der Entwicklung ist das Projekt eHighway. Siemens elektrifiziert dabei LKWs, indem beispielsweise über der rechten Spur einer Autobahn eine Stromoberleitung installiert wird. Die entsprechenden Hybrid-Laster sollen problemlos während der Fahrt an- und abdocken können. In den USA wird dieses Verfahren bald am Hafen von Los Angeles benutzt, um den Containertransport auf dem Hafengelände zu elektrifizieren und damit Kosten zu senken. Die LKWs werden in Zukunft den Weg vom Hafenbecken zum Güterumschlagsplatz auf einem eHighway zurücklegen. Getestet wird diese innovative Idee übrigens in den brandenburgischen Wäldern der Uckermark. Understatement scheint ohnehin eine siemensianische Qualität zu sein.
Das weltweit agierende Unternehmen orientiert sich aber stets am Ursprungsstandort Deutschland. Dem Zukunftsprojekt der Bundesregierung Industrie 4.0 hat sich Siemens daher brav angenommen und es inzwischen zu einer Kernkompetenz erklärt. Dabei zielt der Technologie-Riese auf die Optimierung von Fertigungsprozessen ab. Siemens unterstützt Industrieunternehmen weltweit dabei, Fertigungsverfahren durch moderne Fabriken und Systeme produktiver und damit wettbewerbsfähiger zu machen: Stichwort Ressourceneffizienz.
Angespannte Finanzmärkte
Die aktuellen Krisen – die Ukraine, Gaza, Syrien, der Irak und Nigieria sind nur die Spitze des Eisbergs – sowie weitere potentielle Gefahrensituationen können einen Global Player wie Siemens nicht unberührt lassen. Doch der Vorstand bleibt ruhig. Zumindest nach außen. Zwar erklärt Joe (mit langgezogenem i am Ende), wie die Mitarbeiter ihren Chef gerne nennen, dass die politischen Spannungen im mittleren Osten und der Ukraine „ein ernstes Risiko für das Wachstum in Europa“ seien. Doch er fügt hinzu, dass dies wohl kaum Einfluss auf dieses Geschäftsjahr haben werde. Es bleibe abzuwarten wie sich die Situationen rund um den Globus entwickelten. Dabei ist auch der Staatsbankrott Argentiniens ein Thema. Denn auch dort stehen zwei Gas- und Dampfturbinenkraftwerke von Siemens.
Anleger sehen die Finanzmarktsituation nicht so entspannt wie die sechste Etage der Münchener Unternehmenszentrale. Zum Ende der Woche brachen die Aktienkurse an den Börsen ein. Auch Siemens war davon betroffen. Zwar konnten die Quartalszahlen den Aktienkurs am Donnerstag zwischenzeitlich deutlich nach oben treiben, doch am Freitagabend schloss der Kurs auf schwachen 90 Euro. Damit hat die SIE-Aktie seit dem 20. Juni zehn Prozent verloren. Die 100-Euro-Marke war im letzten Jahr immer ein Richtwert, an dem sich Analysten orientierten. Diese schätzen den Kurs nach wie vor als unterbewertet ein. Analyst Simon Toennessen von der Credit Suisse lobte am Freitag die „sich beschleunigende Auftragsdynamik“ und den „starken Free Cash Flow“. Einer Dividende von drei Euro dürfen sich Aktionäre auch weiterhin gewiss sein. Das entspricht einer Rendite von über drei Prozent.
Fazit
Siemens hat mit seiner Vision 2020 einen griffigen Plan, um den Konzern fit für die Zukunft zu machen. Die Konkurrenz ist groß, das Industrie- und Technologiegeschäft schnellebig. Doch der Mischkonzern hat eine langfristige Orientierung und viele überzeugende Produkte im Portfolio. Im Sektor „Energy“ gibt es trotz guter Aufträge mäßige Ergebnisse. Daran müssen Kaeser und seine Mitarbeiter arbeiten. Für die Aktionäre war Siemens in den letzten Wochen kein großer Spaß. Vielleicht bietet sich aber nun wieder eine geeignete Kaufsituation – die Analysten sind optimistisch. Nächstes Jahr soll die neue Geschäftszentrale fertiggestellt werden. Bis dahin hat Kaeser vielleicht auch den Energiesektor im Griff.