Siemens im Gründerfieber: Innovation, die nicht begeistert
Siemens zelebriert seine jahrhundertealte Tradition und will gleichzeitig die Zukunft mitgestalten. Mit der neu gegründeten „Innovation AG“ wagt sich CEO Joe Kaeser in die Offensive und verspricht neue Investitionen. An der Börse stößt er damit jedoch auf Skepsis.
Siemens zelebriert seine jahrhundertealte Tradition und will gleichzeitig die Zukunft mitgestalten. Mit der neu gegründeten „Innovation AG“ wagt sich CEO Joe Kaeser in die Offensive und verspricht neue Investitionen. An der Börse stößt er damit jedoch auf Skepsis.
Aus alten Fehlern lernen, das sollte gerade bei Industriesenioren wie Siemens selbstverständlich sein. Den Megatrend der Gegenwart und Zukunft – die Digitalisierung – dürfen die Münchner keinesfalls so verschlafen wie die Umbrüche der Telekommunikationsbranche, sonst droht Siemens noch stärker zurückzufallen. Statt Sparkurs heißt es deshalb jetzt: Investieren, was das Zeug hält, in Zahlen: 4,8 Milliarden Euro. So viel will Siemens im schon laufenden Geschäftsjahr 2016 in Forschung und Entwicklung (FuE) investieren, 300 Millionen mehr als im Vorjahr. „Der Erfolg unseres Unternehmens und seine langfristige Zukunft liegen in unserer Innovationsstärke. Der Motivation und Kreativität unserer hochkompetenten Mitarbeiter kommt dabei eine herausragende Bedeutung zu“, ließ CEO Joe Kaeser gestern wissen: „Unser Unternehmen braucht gute Ideen – und wir werden die Voraussetzungen dafür schaffen, dass die Ideen unserer klugen Köpfe innerhalb und außerhalb unseres Unternehmens auch schnell und unkompliziert umgesetzt werden können."
Der neue Spirit manifestiert sich in der Gründung einer sogenannten „Innovation AG“, die „Freiräume zum Experimentieren und zum Wachsen“ bieten soll. Im Zentrum werden dabei Projekte à la Start-up stehen, „die sich unabhängig vom Stammgeschäft entfalten sollen“, heißt es in einer Mitteilung vom gestrigen Dienstag. Um dieses neue Innovationsklima anzustoßen, werde die neue Einheit auch als Berater, Förderer und Risikokapitalgeber fungieren.
Es ist kaum zu übersehen, dass Kaeser und die restliche Führungsriege den Schalter mit aller Macht umlegen wollen. Getrieben werden sie von immer neuen Konkurrenten und Taktgebern in den verschiedenen Branchen, denen Siemens angehört: Mobilität, erneuerbare Energien, Healthcare und einige mehr. Die entscheidenden Ideen sollen einerseits von Experten kommen, wie die Gründung eines „wissenschaftlichen Beirats“ zeigt. Andererseits dürfen sich Mitarbeiter des Traditionsunternehmens künftig stärker einbringen als je zuvor. In den kommenden drei Jahren legt Siemens dafür 100 Millionen Euro auf den Tisch, zusätzlich zu den bereits zur Verfügung stehenden 300 Millionen an Mehrinvestitionen für FuE im laufenden Geschäftsjahr. Gefördert werden nicht nur Technologien und Geschäftsideen, sondern auch Verbesserungen für Prozesse, Services und in der Kundenbindung im Vertrieb.
Einfallsreichtum, aber bitte plötzlich
Das deckt sich zumindest auf dem Papier mit den Plänen, ab Januar 2016 einen flotten, englischen Slogan im Konzern-Logo mitzuführen – wie das auch die hippen Start-ups tun, auf die Siemens so neidisch ist. Kaeser erklärt, „Ingenuity (zu deutsch: Einfallsreichtum) for life“ bedeute nicht nur „Ingenieurskunst, Unternehmertum, Innovationskraft und die Bereitschaft, für die Gesellschaft tagtäglich unser Bestes zu geben“, was eigentlich schon pathetisch genug wäre. Nein, es sollen in jeder Generation bei Siemens auch „Dinge“ getan werden, „die langfristig Wert schaffen – für den einzelnen Kunden, Mitarbeiter und Bürger genauso wie für die Gesellschaft als Ganzes.“ Der Münchner Großkonzern will mit diesem Slogan noch einmal deutlich machen, wofür er in Zukunft stehen möchte: Elektrifizierung, Automatisierung und Digitalisierung. Anlass der Kreation ist der Geburtstag des Unternehmensgründers Werner von Siemens, der sich am 13. Dezember 2016 zum 200. Mal jährt. Doch der Blick nach vorn ist für den Konzern viel wichtiger, wenn man nicht bald ganz alt aussehen will.
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Technikvorstand Siegfried Russwurm, der eng in die neuen Prozesse eingebunden wird, bringt es auf den Punkt: „Die Zeit der Tüftler, die im stillen Kämmerlein Ideen für die Zukunft entwickeln, ist vorbei.“ Stattdessen baut Siemens seine Zusammenarbeit mit zahlreichen Universitäten aus. Am Heimatstandort München wird ein neuer Forschungsstandort gegründet, wo man die Kräfte von Siemens und Technischer Universität (TU) bündeln will. In China entsteht im kommenden Jahr ein Innovationszentrum mit 300 Mitarbeitern, Tel Aviv bekommt ein Gründerzentrum. „Sparen“ klingt da wie ein Wort aus einer anderen Zeit.
Innovationen: Angriff ist die beste Verteidigung
Doch Joe Kaeser tut nur, was nötig ist. Denn ohne das gewisse Etwas der Innovation und ohne Vorsprung vor der Konkurrenz wird Siemens nicht so wachsen, wie man sich das vorstellt. Die Münchner spüren die Billigproduzenten aus Asien im Nacken und müssen sich der Ellbogen von Mitbewerbern wie GE und ABB erwehren. Im Geschäftsjahr 2015 wurde die Prognose immerhin erfüllt, der Gewinn wuchs im Vergleich zum Vorjahr wieder deutlich auf 7,4 Milliarden Euro. Trotz eines schwierigen Marktumfelds und trüben Konjunkturaussichten hält Siemens auch an der Prognose für das laufende Geschäftsjahr fest. Im November sagte Joe Kaeser: „Wir haben geliefert, was wir versprochen hatten, und sind für das vor uns liegende Jahr gut gerüstet, um unsere Pläne erfolgreich umzusetzen.“ Bei stabilem Rüstzeug will man nun also das Schwert der Innovation schärfen.
An der Börse stößt Kaeser damit zunächst auf Skepsis. Das ist die natürliche Reaktion auf eine Innovationsoffensive, die auf den ersten Blick erzwungen wirkt und deren Erfolg fraglich ist. Die Siemens-Aktie hat seit ihrer Annäherung an die 100-Euro-Marke Ende November wieder deutlich an Wert verloren. Grund dafür ist wie am gesamten deutschen Aktienmarkt auch die jüngste EZB-Entscheidung. Doch nach den Ankündigungen aus München vom Dienstag sackte der Kurs des Papiers um weitere 2,5 Prozent ab. Aktuell liegt die Aktie mit einem Minus von 0,66 Prozent nur noch bei 90,17 Euro. Für die Privatbank Berenberg sind die aktuellen Pläne kein Grund zur Euphorie. Analyst Simon Toennessen sieht nur beschränktes Potenzial für die Aktie und hält an einem Kursziel von 95 Euro fest. Die Einstufung lautet daher „Hold“. Toennessen lobt zwar die geplanten Mehrinvestitionen in FuE, sieht aber auf Siemens noch einen anstrengenden Konkurrenzkampf zukommen.
Marius Mestermann