Weltmarktführer ohne Gewinne
Die Amazon-Aktie steigt und steigt - das Risiko aber auch. Erinnerungen an den New-Economy-Booom werden wach.

Es ist wie 1999 im ersten New Economy-Boom: Internet-Aktien wie Amazon, Google oder LinkedIn überbieten sich derzeit mit Rekorden. Die Amazon-Aktie hat in der vergangenen Woche erstmals die 300 Dollar-Marke im Nasdaq geknackt und schraubt sich auch in dieser Woche weiter nach oben. Seit Beginn des Jahres ist das Papier damit um 23 Prozent gestiegen. Das US-Unternehmen von Gründer Jeff Bezos war nie zuvor so wertvoll wie heute - die Marktkapitalisierung hat die Marke von 100 Milliarden Euro deutlich überschritten.
Das sind Nachrichten, die Amazon-Anlegern gute Laune verschaffen. Doch es gibt auch Schattenseiten des Erfolges: Immer mehr Beschäftigte klagen gegen den Milliardenkonzern, der mehr als 88.400 Mitarbeiter hat. Zu schlechte Arbeitsbedingungen, Überwachung der Arbeitnehmer und niedrige Löhne stellen sich als Dauerproblem heraus. In Leipzig, einem der zehn deutschen Standorte, wurde in dieser Woche gestreikt. Ver.di fordert für die Beschäftigten einen angemessenen Tarifvertrag nach den Standards des Einzel- und Versandhandels. Deutschland ist der zweitgrößte Markt für das international agierende Unternehmen Amazon.
Keine firmeneigene Superdomain
Nicht nur in Deutschland muss der Versandhandelskonzern eine kleine Niederlage wegstecken. Denn die Domain-Endung .amazon wird es wider Erwarten nicht geben. Die Ähnlichkeit des Namens zum Amazonas Fluss in Südamerika war für das Komitee Icann, das das Adresssystem im Internet verwaltet, ausschlaggebend. Es sei unfair der südamerikanische Region gegenüber, dem Konzern alle Namensrechte zu gestatten.
An der Börse werden solche Nachrichten als Nebensächlichgkeiten ignoriert. Doch auch in der Hauptsache zeigt Amazon ein Problem: Die Gewinne bleiben aus. Darum sollten sich Anleger bewusst sein, dass der hohe Aktienkurs nicht Folge von guten Bilanzzahlen ist, sondern viel mehr die Erwartungen und das Vertrauen in große Erfolge in der Zukunft wider spiegelt. Dabei lohnt sich auch ein Blick auf das Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV). Denn dieses beträgt erstaunliche 224 und macht die Aktie zu einem sehr teuren Investment.
Im ersten Quartal diesen Jahres lag der Umsatz bei 16,1 Milliarden US-Dollar und somit knapp ein Viertel höher als im Vorjahr. Für das zweite Quartal rechnen Analysten mit einem Wachstum von 13 bis 26 Prozent. Doch der Gewinn betrug nur magere 82 Millionen US-Dollar - und damit auch noch um 37 Prozent weniger als im gleichen Vorjahreszeitraum. Die Umsatzrendite war schon schlecht, doch nun ist sie miserabel.
Kurzum: Der Internetriese setzt auf Wachstum und opfert dafür Gewinn. Jeff Bezos möchte weiter expandieren - der wachsende Markt in Indien ist ein Hauptanliegen in diesem Jahr: Junglee heißt das indische Pendant, das nun seit anderthalb Jahren besteht. Bisher bietet dieses Portal Preisvergleiche zwischen Produkten; Verkäufe laufen noch über Drittanbieter. In Zukunft könnten aber auch in Indien Amazon-Lager eröffnet und somit direkte Verkäufe abgewickelt werden.
Nicht genug verdient
Schlechte Nachrichten für Aktionäre gibt es auch in Sachen Dividende. Denn während viele US-Technologieunternehmen immer höhere Dividenden ausschütten, gehen Amazon-Anleger immer noch leer aus. Die durchschnittliche Dividendenrendite bei amerikanischen IT-Unternehmen liegt bei 1,21 Prozent. Erstmals seit 15 Jahren wurde somit die Marke von einem Prozent überschritten, wie Bloomberg veröffentlichte.
Trotz der hohen Bewertung bei ausbleibenden Gewinnen sind die meisten Analysten positiv gestimmt. Die US-Investmentbank Morgan Stanley rät seit Monaten zum Kauf der Aktie. Vergangene Woche lobte Analyst Scott Devitt in einer Studie Amazons Vorstoß in den Online-Lebensmittelhandel in Los Angeles. Dieser sei positiv und zeige, dass das Unternehmen auch in anderen Einzelhandelssegmenten Gelegenheiten ergreife.
Eine Risikoanalyse ergibt, dass die Aktie zwar ein mittleres Risiko bei Indexrückgängen aufweist - der Bear-Market-Faktor also mittelmäßig ist; der Bad-News-Faktor aber niedrig ist, die Aktie also auf schlechte Nachrichten kaum negativ reagiert. Damit zeigt sie sich krisenbeständig.
Hohes Risikopotential
Die Strategie, Gewinne für Wachstum zu opfern, scheint auf der Umsatzseite aufzugehen: Amazon ist inwzischen Welt-Marktführer im Online-Versandhandel, der Trend zeigt in allen Märkten nach oben. Zudem werden Kurszuwächse von Amazon, Google und Co. mit Heraufstufungen zum Beispiel auf „Overweight“ durch mehrere Invetmentbanken befeuert. Zwischen Google und Priceline (US-Online-Reiseportal) ist das Rennen um die erste 1.000-Dollar-Internetaktie im Gange.
Kein Wunder, dass erfahrene Börsianer mahnend an das Ende der 90er Jahre erinnern. Viele haben damals erlebt wie schnell durchgestartete Börsenwunder zerplatzten. Die sogenannte Dotcom-Blase platzte 1999 nach starken Kursanstiegen von Internetaktien. Parallelen zu damals gibt es gewiss, doch die heutigen Onlinegiganten sind etablierter und kennen die Ereignisse von 1999. Ob das wirklich reicht um eine zweite Dotcom-Talfahrt zu verhindern? wcw