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Eine neue Medizin hilft gegen Übergewicht. Der Hersteller strahlt, die Aktie macht einen Sprung

Die Forschung arbeitet mit Nachdruck an Medikamenten gegen krankhaftes Übergewicht. Die manchmal als Wohlstands-Epidemie unterschätzte Krankheit kann lebensgefährlich sein, denn die Begleiterscheinungen sind eine ernste Sache. Ein großer Pharmaproduzent kommt jetzt mit einer Wunderpille dagegen. Bislang staunen auch die Ärzte.

(Bild: Shutterstock)

Die Forschung arbeitet mit Nachdruck an Medikamenten gegen krankhaftes Übergewicht. Die manchmal als Wohlstands-Epidemie unterschätzte Krankheit kann lebensgefährlich sein, denn die Begleiterscheinungen sind eine ernste Sache. Ein großer Pharmaproduzent kommt jetzt mit einer Wunderpille dagegen. Bislang staunen auch die Ärzte.
 
„Ich bin so froh, dass ich kein Dicker bin“, hat einst Marius Müller-Westernhagen gesungen, Jahrzehnte ist es her. Das ironisch-frivole Lied wäre heute ein Aufreger – wenn auch aus den falschen Gründen. Denn längst sind Menschen mit Übergewicht kein Ziel von Spott mehr, es gibt im Gegenteil eine ganze Bewegung gegen die Beurteilung von beleibten Mitbürgern („Fatshaming“). Der Trend nach dem Motto „Mein Gewicht gehört mir“ hat allerdings, wenn er zur Verharmlosung führt, böse Folgen. Nicht selten ist ein überhöhter BMI (Body Mass Index, Verhältnis Körpergröße/Gewicht) über 26-30 ein ernstes Warnsignal. Manchmal unbemerkt entwickeln sich Krankheiten wie Herzschwäche, Bluthochdruck, Diabetes, sogar erhöhtes Krebsrisiko für dreizehn Krebsarten, so die Forschung. Nach Untersuchungen des Robert-Koch-Instituts halten sich selbst 46,6 Prozent der Frauen und mehr sechzig Prozent der Männer für übergewichtig, das sind die Ergebnisse des Journal of Health Monitoring 2022. Knapp ein Fünftel der Deutschen leiden nach der Statistik an krankhaftem Übergewicht, Adipositas (BMI über 30). Das Risiko nimmt mit dem Alter zu. Während die Zahlen in Deutschland insgesamt eher stagnieren, ist die weltweite Gewichtszunahme offenbar besorgniserregend. Nach Statistiken der Weltgesundheitsorganisation gelten rund vierzig Prozent der Menschen als über der Norm liegend, dreizehn Prozent seien krankhaft übergewichtig. Und es wird schlimmer. In Ländern wie Saudi-Arabien, Ägypten und Mexiko steigt die Anzahl der Betroffenen besonders rasant. Um 2035, erwartet die WHO, dürften vier Milliarden Menschen übergewichtig sein. Wenn denn nichts geschieht.
 
Kein Wunder, dass angesichts solcher Zahlen nach Strohhalmen gegriffen wird: Patentkuren für mühelos erreichbares Idealgewicht spülen den Herstellern von allerlei Dragees, Pillen und Säften und neuerdings auch Apps in den Industriestaaten jedes Jahr Milliarden in die Kassen, 250 Milliarden Dollar waren es weltweit 2022. Mittlerweile gibt es hohe Marktanteile sogar für geradezu Voodoo-ähnliche Kuren und Tinkturen. In der Geschichte der Abnehmbehandlung finden sich auch nicht zu knapp solche Mittel, die schwere Nebenwirkungen zeitigten und vom Markt genommen wurden, nachdem es Todesfälle gab. Medienberichte über Fitness und Form finden reges Interesse. Doch die wenigsten lassen sich locken vom mühsamen Prozess des Abnehmens durch Sport und gesunde Ernährung, obwohl dies ebenso bewährte wie nützliche Methoden ganz allgemein für die Gesundheit sind: Im Alltag das umzusetzen, was die Vernunft und der Hausarzt raten. Insgeheim dürfte bekannt sein, dass große Werbeversprechungen wenig taugen, sobald sie im täglichen Leben auf ihre Wirksamkeit getestet werden. Das Allheilmittel steht weiterhin aus. Seit kurzem allerdings setzen nicht nur Betroffene, sondern auch die Wissenschaft auf einen Durchbruch: Die „Abnehm-Spritze“ macht Furore. Dahinter verbirgt sich der Wirkstoff Semaglutid.
 
Die Entdeckung der Spritze gegen das Übergewicht ähnelt einem glücklichen Zufall, vergleichbar etwa der bekannten Geschichte um die Lifestyle-Droge Viagra. Der Hersteller, Novo-Nordisk aus Dänemark, Spezialist für Insulin und Diabetikermedikamente, beobachtete bei seinem Medikament Ozempic zur Behandlung von Diabetes Typ 2 einen bemerkenswerten Gewichtsverlust bei seinen Patienten. Der Wirkstoff Semaglutid wurde alsbald „Off  Label“, also für einen ursprünglich nicht vorgesehenen Behandlungszweck, zum Renner. Zunächst entdeckten Hollywoodgrößen und TikTok-Sternchen das Mittel zum Abnehmen – schnell, effizient, arm an kurzfristigen Nebenwirkungen. Die Kunde verbreitete sich, wie stets dieser Tage, via Internet rasend schnell zu den Wohlstandsverwöhnten mit Bauch-, Beinen- Poproblemen. Gewichtsabnahme von zehn bis zwanzig Prozent scheint locker drin. Und schnell. In der Tat wirkt die Spritze da, wo die tiefere Ursache mancher Gewichtszunahme sitzt: im Gehirn. Analog zum Hormon GLP-1 erhöht der Wirkstoff die Ausschüttung von Insulin aus der Bauchspeicheldrüse. Zusätzlich verstärkt das Mittel das Sättigungsgefühl und verlangsamt die Magentätigkeit. Die neueren Entwicklungen dieser GLP-1-Rezeptoragonisten versprechen hohen, schnellen Effekt und müssen aus dem „Fertigpen“ nur einmal pro Woche verabreicht werden, was jeder selbst tun kann. „Von den aktuell in der EU für die Behandlung von Adipositas zugelassenen Wirkstoffen ist Semaglutid 2,4 mg mit Blick auf das Risiko-Nutzen-Profil aus medizinisch-wissenschaftlicher Sicht die erste Wahl“, sagt die Deutsche Adipositas-Gesellschaft. Damit steht dem Erfolg als Lifestyle-Präparat nicht mehr viel im Wege, so wiederum das Deutsche Ärzteblatt.

Außer natürlich den Langzeitfolgen, die man naturgemäß noch nicht kennt. Mit gewissem Schaudern verweist das Fachmagazin auf die Anmerkungen des Professors an der Charité, Joachim Spranger: „Wenn man sich vorstellt, dass ein adipöser 30-jähriger Patient dieses Medikament für die nächsten 40 Jahre spritzt, dann haben wir natürlich unzureichende Erfahrungen, was alles kommen kann.“ Denn bei krankhafter Adipositas muss man das Mittel nach gegenwärtigem Stand ein Leben lang nehmen. Und um das Gewicht zu halten, für alle anderen, wohl auch. Denn es gilt, uralte genetische Prägungen des Menschen in Schach zu halten: Aus längst vergangenen Zeiten stammt das Programm, jede Nahrung im Körper zu verwerten – wer weiß schließlich, wann es wieder etwas gibt für den vorzeitlichen Jäger und Sammler. Und was der Bauch einmal hat, gibt das Hirn nur widerwillig wieder her. Mittlerweile belegen Forschungen diese Abläufe auf molekularer Ebene. Was dazu führen könnte, dass das alte Stigma mit zu reichlichem Essen und Disziplinlosigkeit bei Übergewichtigen allmählich verschwinden könnte.
 
Und genau bei den alten „Programmen“ schaltet sich der neue Wirkstoff nun ein. Wer es allerdings übertreibt, nach dem Motto „viel hilft viel“, darf sich mitunter über ein sehr verändertes Aussehen wundern: Bei manchen Nutzern verschwindet auch das Unterfettgewebe im Gesicht, das für die gewohnte optische Erscheinung verantwortlich ist. Ganz auf die leichte Schulter nehmen soll man nach Meinung der Fachärzte das Ganze also nicht. Ohne Anpassung des Lebensstils und ein Bewegungsprogramm bleibt auch der sonstige gesundheitliche Nutzen sicherlich beschränkt. Und: Es ist ein teures Vergnügen. Die Behandlung mit dem Originalpräparat kostet in den USA etwa 1.000 Dollar im Monat, auch wenn bereits der rege Onlinehandel die Preise hat nachgeben lassen. Trotzdem: Für die Bevölkerungsgruppen mit dem stärksten Übergewicht, oft einkommensschwache Haushalte zum Teil ohne Krankenversicherung, bleibt die Behandlung in Amerika unerschwinglich.
 
Doch die Konkurrenz schläft nicht. Novo-Nordisk konnte seinen Vorsprung bislang gut nutzen und verzeichnete reichlichen Ertrag sowie eine Verdoppelung des Aktienkurses seit Mitte 2021, momentan kostet das Papier um die 150 Euro, nahe dem Höchstkurs. Da man der plötzlichen Nachfrage anfangs nicht Herr wurde, wären vermutlich noch viel mehr zu verdienen gewesen – die erwarteten drei bis vier Milliarden Umsatz für dieses Jahr allein in den USA sind trotzdem eine bemerkenswerte Zahl. Novo-Nordisk-Chef Lars Jørgensen sieht in Amerika vierzig Millionen Patienten für sein Mittel. Der Aufbau der nötigen Produktionsstätten liegt nun im Plan, so dass die Dänen keine Engpässe mehr sehen und mehr und mehr Länder beliefern wollen. Derweil läuft sich der Pharmariese Eli Lilly warm. Der Konzern will im Sommer mit der Markteinführung seines Konkurrenzprodukts Mounjaro beginnen – der dem Semaglutid verwandte Wirkstoff hat in den klinischen Tests zwanzig Prozent Gewichtsverlust erreicht – im Durchschnitt. Die Erlöse dieser neuen Mittel, so der britische „Economist“, dürften bald diejenigen aller Krebsmedikamente zusammen erreichen. Weitere Pharmakonzerne werden also sicher auf den Zug aufspringen, und die Preise werden wohl nachgeben, je populärer das Medikament wird.
 
Demgegenüber stehen natürlich die Kosten, die durch Folgen der Übergewichtigkeit verursacht werden. Auch wenn die Träger dieser Belastungen nicht die gleichen sind wie die, die das Medikament bezahlen müssen. Die „World Obesity Organisation“ (Welt-Übergewichts-Organisation), eine NGO, forscht in alle Richtungen. Und hat ermittelt, dass krankhafte Schwergewichtigkeit im Jahre 2035 rund 2,9 Prozent der weltweiten Wirtschaftsleistung verschlingen wird. Frühzeitige Todesfälle, Krebs und Diabetes, Arbeitsunfähigkeit sowie klinische Behandlungen sind so teuer, dass sich eigentlich jedes wirksame Medikament auf lange Sicht bezahlt machen wird. Bereits jetzt zeigt sich bei den Diabetikern, die das Mittel nehmen, ein signifikanter Rückgang von Herzinfarkten und Schlaganfällen. Außerdem belegt eine Studie der Harvard Universität, dass mit verändertem Lebenswandel und ähnlichen Maßnahmen nur zehn bis zwanzig Prozent der Betroffenen tatsächlich überhaupt abnehmen können – bei allen anderen hilft nichts davon. Das urzeitliche genetische Programm wehrt sich, der Körper kämpft sozusagen darum, sein gewohntes Gewicht zu behalten und signalisiert unmissverständlich, die Nahrungsaufnahme anzukurbeln. Vererblich, natürlich, ist das Ganze auch noch. Gleichzeitig hat die veränderte Lebensweise in den Industrieländern einen unerwünschten Effekt. Statt harter körperlicher Arbeit dominiert das Büro. Allein in den Jahren 1966 bis 2006, so eine US-Studie, verringerte sich der tägliche Kalorienverbrauch der Amerikaner durchschnittlich um 100 kcal. Möglicherweise aber liegt im Harvard-Studiendesign auch eine Möglichkeit, den hartnäckigen Jo-Jo-Effekt so vieler Diätprogramme zu erklären. Gegenmaßnahmen schienen bislang zwecklos. Die neue Medikamentengeneration, so der „Economist“, verändert das Spielfeld nun wohl nachhaltig. Es könnte sich um die erfolgreichste pharmazeutische Erfindung aller Zeiten handeln.

Reinhard Schlieker