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Manche Warnungen haben plötzlich Hand und Fuß: Bei Shell zum Beispiel

Der Tankstellenkonzern Shell verlegt seinen Hauptsitz von Den Haag nach London. Das hat wohl vor allem steuerliche Gründe. Und womit dürfen Anleger jetzt rechnen?

Der Tankstellenkonzern Shell verlegt seinen Hauptsitz von Den Haag nach London. Das hat wohl vor allem steuerliche Gründe. Und womit dürfen Anleger jetzt rechnen?

Von Reinhard Schlieker

„Heimatlose Gesellen“, das war in der guten und in der nicht ganz so guten alten Zeit ein schwerwiegender Vorwurf. So etwa wie „vogelfrei“ zu sein, was eigentlich so schön klingt, aber im Mittelalter meist tödlich endete: Frei wie ein Vogel wollte die Menschheit vielleicht schon sein, aber vogelfrei, ausgeschlossen, ohne Familie, Sippschaft und Scholle? Das Leben war gefährlich, wenn man allein war. Und im Wald, da sind die Räuber.

Heute, so sieht man es jedenfalls von der Warte so manches CEO oder Finanzvorstandes, sind die Räuber eher in Bürokraten-Glaspalästen und Bürotürmen anzutreffen. Manchmal auch hinter einer Richterbank fremder Wahl. Zu hören bekommt das der Rechercheur allerdings höchstens leise-vertraulich, und auch das allenfalls von Ex-CEOs, von Aufsichtsratsmitgliedern höherer Seniorität und daher mit sehr selbstbestimmter Zukunft.

Ein Traditionskonzern wie Royal Dutch Shell wird natürlich, wenn er seine ebenso traditionellen Firmensitze zusammenlegt und die Europäische Union damit hinter sich lässt, wohl abgewogene Gründe finden, die allesamt rein geschäftlich-rationaler Natur sind. Man hatte ja hinreichend gewarnt und zwei Konzernsitze in der heutigen Zeit, nun ja.

Die Aktionäre fühlen sich da schon erheblich weniger verpflichtet, den schönen Schein zu wahren. Die wirtschaftlichen Erfolge von Royal Dutch Shell hielten sich zuletzt in Grenzen, und das lag wohl eher nicht an der 15prozentigen niederländischen Dividendensteuer. Damit ließe sich das Dümpeln um die unbefriedigende 20-Euro-Marke wohl kaum erklären – es waren vor nicht allzu langer Zeit mal 50 Prozent mehr – allerdings vor kurzem, nämlich um die Jahreswende, wiederum nur gut die Hälfte des heutigen Kurses. Solches Schwanken hatte es im 21. Jahrhundert bei der Aktie so nicht gegeben.

Derweil sitzt Shell auf sehr viel Bargeld, und eine Sonderausschüttung ohne Quellensteuer wäre den meisten Aktionären wohl eher lieber als eine mit. Für mittelfristig orientierte Anleger stellen sich jedoch einige knifflige Fragen. Sollte Shell sich aufspalten? – dies ist eine davon. Den Ansatz verfolgen aktivistische Hedgefonds, die meinen, zwei Gesellschaften mit jeweils dem öligen Altgeschäft und dem ökologisch orientierten neueren (grünen) Zweig wären besser, insbesondere was die Gewinnung neuer Anteilseigner angeht.

Die althergebrachten Mitinhaber wollen Öl und Gas nicht totgesagt wissen, und schätzen auch den Ansatz, dass Shell von Förderung über Transport und Raffinerie bis hin zum Endkunden das meiste in einer Hand hat. Schließlich stammt Shell von einem Händler, einem Muschelkrämer ab, der im 19. Jahrhundert mit diesen handelte, als man sie schmückend an sich trug, und dessen Gründung so zum Im- und Exportgeschäft kam, und dann kam noch Kerosin dazu… die berühmte Keimzelle war da (in London, übrigens).

Anderen wirkt das alles viel zu altbacken, und wenn jenes vor einiger Zeit ergangene Urteil eines Gerichtshofes in Den Haag mit seinen ganz eigenen Umweltauflagen Bestand haben sollte, muss Shell sich mit seiner CO2-Ausstoßminderung sehr beeilen, um die Kurve zu kriegen. Für eine „Shell – neu“ mit Wasserstoff und Ladesäulen wäre das natürlich kein Problem, und eine „Shell – alt“ könnte und würde vermutlich das Urteil erst einmal zur Seite wischen – schließlich existiert der Adressat ja nicht mehr, was im Übrigen eine schöne Aufgabenstellung für Nachwuchsjuristen darstellen dürfte. In London jedenfalls ist das Unternehmen sehr willkommen – und genauso dieses schlagende Beispiel für Brexit-Befürworter, dass es mit dem Finanzplatz alles andere als bergab geht.

Nicht zu vergessen dabei schließlich Unilever, einst gegründet in Deutschland am Niederrhein, dann ebenfalls ein niederländisch-britisches Unternehmen nach diversen Fusionen im Laufe der 130jährigen Geschichte – und letztes Jahr entschlossen nach Großbritannien umgesiedelt. Warum nicht? London ist schließlich nicht rufschädigend, nicht Bermuda oder Cayman, aber das ist nochmal eine andere Geschichte.
Unilever also liefert weltweit alles Mögliche, von dem einst als „Margarinewerke“ bezeichneten Kleinbetrieb künden noch Sanella und Konsorten; dann gibt es Knorr und Pfanni und zum Essen noch Ben & Jerry’s und Langnese, und wer die Folgen des Genusses abmildern möchte, bekommt Slim-Fast obendrauf. Die Küche putzt man mit Viss und Domestos, und sich selbst dann mit Dove und Duschdas und Rexona.

Wer Shell unübersichtlich findet, soll sich dies alles mal vor Augen führen. Wenn es Unilever 2020, und dann womöglich nach dem Aktionärsvotum im Dezember auch Shell aus der EU treibt, dann bleibt natürlich eine geschockte niederländische Regierung zurück, aber auch in Brüssel könnte man sich vielleicht mal Gedanken machen. Allein wegen einer nationalen Steuer, die es schon lange gibt, und die lediglich nicht, wie eigentlich angekündigt, abgeschafft wurde, packt ein Großkonzern nicht die Sachen und zieht weg. Zumal international einiges an Gestaltung möglich erscheint und auch gemacht wird. Wenn dann aber noch überbordende Bürokratiekosten an der Bilanz nagen, und in sich widersprüchliche Regulierung mit aberwitzigen Dokumentationspflichten kein Halten mehr kennt – wovon auch deutsche Familienunternehmen ein garstiges Lied singen können -, dann neigt sich die Waagschale doch alsbald sehr deutlich.

Man möchte darauf wetten, dass die beiden Traditionsunternehmen bei weitem nicht die einzigen sind, die solche Pläne fertig aus der Schublade ziehen konnten und könnten. Zumal es inzwischen genügend Mittelständler gibt, darunter nicht wenige Aktiengesellschaften, die in Mitteleuropa zwar den Sitz, das Geschäft aber hauptsächlich woanders haben. Bei manchem dürfte nur noch eine kleine Dosis von einheimischer modischer Wirtschaftsfeindlichkeit und Gängelung fehlen, und das Fass läuft über. Was die großen börsennotierten Firmen angeht, wie Shell also und Unilever, sind am Ende sicherlich Zukunftsaussichten und Kennzahlen für Aktionäre das Entscheidende. Für beides aber könnte der Umzug nicht das schlechteste sein.

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