„Lassen Sie mal was in Italien oder Frankreich passieren“
Auf dem „Zukunftstag“ in Berlin fordert der ehemalige Vizepräsident des Europäischen Parlaments, Ingo Friedrich eine Neudefinition von „Souveränität, Patriotismus und Identität“. Grünen-Politikerin Hannah Neumann will endlich den „gemeinsamen Steuersatz“. Mario Ohoven, Präsident des Bundesverbands mittelständische Wirtschaft, treibt derweil „die Sorge vor der nächsten Europa-Krise".
Auf dem „Zukunftstag“ in Berlin fordert der ehemalige Vizepräsident des Europäischen Parlaments, Ingo Friedrich eine Neudefinition von „Souveränität, Patriotismus und Identität“. Grünen-Politikerin Hannah Neumann will endlich den „gemeinsamen Steuersatz“. Mario Ohoven, Präsident des Bundesverbands mittelständische Wirtschaft, treibt derweil „die Sorge vor der nächsten Europa-Krise“.
Der prophezeite Rechtsruck in Europa ist ausgeblieben. Und doch wird das Ergebnis der in diesem Jahr so häufig als „Schicksalswahl“ dramatisierten EU-Volksabstimmung vieles verändern. Die sogenannten „Altparteien“ sind erwartungsgemäß abgestraft worden, die Grünen die großen Gewinner, die Rechtspopulisten werden – auch wenn in Teilen schwächer als befürchtet und EKR, ENF und EFDD zusammengenommen – zur zweitstärksten Kraft im Parlament. Die am Ende regierende Koalition – ob nun EVP mit S&D und ALDE, EVP mit S&D und den Grünen oder EVP mit Grünen und ALDE – wird sich auf Dauergegenwind aus dem rechten Lager einstellen müssen. Und auch untereinander werden die Kräfteverhältnisse neu gemischt werden. Unterschiede könnten sich zunächst leichter finden, als die dringend notwendige gemeinsame Strategie, die Europa braucht, um international langfristig nicht massiv an Bedeutung einzubüßen.
Kommt die nächste, große Krise?
Es dürfte daher nicht nur Mario Ohoven, Präsident des Bundesverbands mittelständische Wirtschaft, die Sorge umtreiben, „wann die nächste Krise Europa heimsucht“, wie er in einer tiefsinnigen, aufrüttelnden Rede auf dem „Zukunftstag“ in Berlin zu bedenken gab. „Lassen Sie mal was in Italien oder Frankreich passieren“, warnte er weiter. Dazu „haben wir international schwelende Handelskriege. Iran gegen Israel, Katar gegen Saudi Arabien, Türkei gegen Ägypten“, wies Ohoven auch auf die weniger in der Öffentlichkeit ausgetragenen Scharmützel hin. Der Handelskonflikt zwischen China und den USA ist dank immer neuer Drohungen des US-Präsidenten in der medialen Berichterstattung ja quasi dauerpräsent. „Daher“, so Ohoven, „brauchen wir mehr denn je ein ganz starkes Europa und den Willen für das Modell Europa mit kühlem Kopf, aber auch warmem Herzen zu kämpfen“. Gerade aus deutscher Sicht, sei die Bundesrepublik nach wie vor einer der „größten Profiteure“ der EU.
„Klima, Digitalisierung, Handel, sind alles Themen, die nicht auf Länderebene lösbar sind“, sagte die Fraktionsvizevorsitzende der Bayern-FDP, Julika Sandt. „Das muss man den Menschen vor Ort klar machen.“ Andrea Despot vom Institut für europäische Politik, mit Sandt, Grünen-Politikerin Dr. Hanna Neumann und dem FDP-Bundestagsabgeordneten sowie ehemaligen Telekom-Vorstand Thomas Sattelberger, auf dem „Zukunftstag-Podium“, sah das ähnlich. „Ich träume davon, dass wir aus dem politischen Dornröschenschlaf aufwachen und Weltpolitik machen, dass wir Lust haben, zu gestalten.“
„Wir haben Länder, die haben effektiv zwei Prozent Besteuerung“
Konkret in Sachen Gestaltung wurde vor allem Neumann. „Wir brauchen einen gemeinsamen Steuersatz“, forderte sie. „Wir haben Länder, die haben effektiv zwei Prozent Besteuerung, in anderen sind es 30 Prozent. Damit fehlt uns auf europäischer Ebene Geld und natürlich auch national.“ Damit einhergehend, so Neumann, mache auch die gern praktizierte Logik „nach Brüssel zu gehen und das Beste fürs eigene Land rauszuholen, keinen Sinn“.
Für Ingo Friedrich, den ehemaligen Vizepräsidenten des Europäischen Parlaments und Präsident des Europäischen Wirtschaftssenats, sind es auf den Punkt gebracht vier Herausforderungen, vor denen Europa und die Europäische Union steht. Zum einen, so Friedrich, „brauchen wir demokratische Selbstbehauptung in einer unkalkulierbar gewordenen Welt“. Zum anderen, sollten wir eine „globale Rolle als Friedensfaktor“ einnehmen. „Die Welt braucht ein Vernunft hineinbringendes Element wie Europa.“ Darüber hinaus, zählte Friedrich weiter auf, „müssen wir es schaffen, abgehängte Regionen und Menschen wieder auf die Erfolgsspur zu bringen und gemeinsam lernen mit der neuen Komplexität im Kommunikationsbereich“ umzugehen. „Ich sehe eine unglaubliche Notwendigkeit einer völlig neuen Mündigkeit der Bürger.“
„Souveränität müssen wir in Teilen europäisch ausüben“
Dafür müssen „Souveränität, Patriotismus und Identität neu definiert werden. Souveränität müssen wir in Teilen europäisch ausüben. Das tut weh, da man Kernbereiche nationaler Souveränität abgibt“. Aber das „Projekt Europa“ sei eben nicht „nur schön“. Er wolle als „deutscher und europäischer Patriot“ handeln, „in eigener Erweiterung der Identität eine weitere Identität akzeptieren und aufnehmen“.
„Wenn Nürnberg gegen Bayern Fußball spielt, bin ich für Nürnberg. Wenn Bayern gegen Leipzig spielt für Bayern. Und wenn Leipzig dann gegen Paris spielt für Leipzig. Man kann seine Identität also erweitern“, gab er ein anschauliches Beispiel mit Augenzwinkern.
Ulrich Reinhardt, der wissenschaftliche Leiter der Stiftung für Zukunftsfragen, die den „Zukunftstag“ gemeinsam mit der WEIMER MEDIA GROUP im Berliner Ritz-Carlton-Hotel veranstaltete, zitierte – ebenfalls auf Europa blickend – zum Ende hin den französischen Schriftsteller Victor Hugo: „Die Zukunft hat viele Namen. Für die Schwachen ist sie das Unerreichbare. Für die Furchtsamen ist sie das Unbekannte. Für die Tapferen ist sie die Chance.
Bleibt abzuwarten, wie tapfer die EU in der Lage sein wird sich zu schlagen, im großen globalen Wettbewerb mit den USA, China, Russland und womöglich bald auch Indien.
Oliver Götz