„Kosten der Krise werden sich nicht in Luft auflösen“
Der Gedanke, dass Staat und Notenbank es schon richten, könnte sich auf Dauer manifestieren, prophezeit Carolin Schulze Palstring, die beim Bankhaus Metzler die Kapitalmarktanalyse verantwortet. Aktien blieben für Anleger auch im kommenden Jahr das Mittel der Wahl.
Der Gedanke, dass Staat und Notenbank es schon richten, könnte sich auf Dauer manifestieren, prophezeit Carolin Schulze Palstring, die beim Bankhaus Metzler die Kapitalmarktanalyse verantwortet. Aktien blieben für Anleger auch im kommenden Jahr das Mittel der Wahl.
Frau Schulze Palstring, wie lautet Ihr Konjunkturausblick für die kommenden Jahre? Haben wir das Schlimmste hinter uns?
Nach heutigem Stand ist die große Frage, wie die Post-Corona-Ökonomie aussehen könnte. Gibt es einen Strukturbruch, oder kehren wir zurück zum Vorkrisen-Regime? Unseres Erachtens spricht viel für Letzteres. Wenn im Laufe des nächsten Jahres ein Impfstoff in der Breite verfügbar ist, können sich die Wirtschaftsprozesse zwar wieder normalisieren. Allerdings dürften dann die Unternehmen gezwungen sein, die stark gestiegene Verschuldung wieder abzubauen – beispielsweise durch Einsparungen bei Investitionen und/oder Personalkosten. Dieser Entschuldungsprozess kann einige Jahre dauern und führt zu einer ähnlichen Situation wie vor dem Ausbruch der Corona-Pandemie: geringes Wirtschaftswachstum bei moderater Inflation und niedrigen Zinsen. Nur nochmals deutlich verschärft.
Was bedeutet das für Anleger?
Am Ende dreht sich am Finanzmarkt alles um eine Größe: den Zins. Während es 2018 noch so aussah, als würden die Zentralbanken die Leitzinsen wieder erhöhen – die Fed hatte zumindest die Funds Rate auf bis zu 2,5 % angehoben – ist diese Fantasie für die nächsten Jahre völlig abhandengekommen. Aus Sicht der Anleger ist daher in der kommenden Dekade weiterhin Substanzvermögen gegenüber Nominalanlagen zu bevorzugen. Innerhalb des Aktiensegments können kurzfristig zyklische Unternehmen von der Normalisierung der Wirtschaftsprozesse profitieren. Mittel- bis längerfristig werden vor allem Unternehmen mit hohem organischem Wachstum und ordentlicher Bilanzqualität gefragt sein, die darüber hinaus von anhaltenden Megatrends wie ESG, Digitalisierung und dem demografischen Wandel profitieren.
Es bleiben aber auch Risiken.
Aus dem Zusammenspiel von Zins, Schulden, Staat & Notenbanken resultieren Risiken, ja. Die massiven Eingriffe der Politik in marktwirtschaftliche Prozesse während der Coronakrise waren wichtig und richtig. Allerdings könnte sich auf Dauer der Gedanke manifestieren, dass Staat und Notenbanken „es schon richten werden“ und wir uns immer weiter in Richtung Staatswirtschaft bewegen – mit all den langfristigen Folgen für das Produktivitätswachstum. Das Prinzip der „schöpferischen Zerstörung“ würde außer Kraft gesetzt, und es gäbe keine echten Bereinigungskrisen mehr. Unter der Oberfläche würden sich große makroökonomische Ungleichgewichte aufbauen, die sich erst dann entladen, wenn die Zinsen wieder steigen. Das wäre zum Beispiel zu befürchten, wenn die Inflation stark steigen würde und die Notenbanken unter Zugzwang gerieten, geldpolitisch gegenzusteuern. Insofern wäre ein starker Anstieg der Preise auf Sicht der kommenden Jahre vermutlich das größte Problem. In der Eurozone ist dies deutlich unwahrscheinlicher als in den USA.
Welche Folgen hat der massive Anstieg der Staatsverschuldung?
Die Tragfähigkeit staatlicher Verschuldung hängt ebenfalls ganz wesentlich vom Zinsniveau ab. Solange der Schuldenzins unterhalb des nominalen Wirtschaftswachstums liegt, können Staaten relativ bequem aus ihren Schulden „herauswachsen“– einen ausgeglichenen Staatshaushalt vorausgesetzt. Zu berücksichtigen ist auch, wer die ausgegebenen Staatsanleihen (am Sekundärmarkt) kauft: Das sind zu einem großen Teil die Notenbanken. Niemand weiß, ob und wann die Währungshüter ihre Anleihebestände wieder abbauen werden. Insofern muss aus der steigenden Verschuldung nicht notwendigerweise kurzfristig eine neue Krise entstehen.
Wie sollten Investoren mit der Situation umgehen?
Wir beschäftigen uns schon länger mit dem Thema steigender Staatsverschuldung. Bezogen auf die Anlagepolitik ist unsere Erwartung daher seit vielen Jahren die gleiche, und sie wurde durch den jüngsten Verschuldungsanstieg nur noch einmal bestärkt: Wir glauben, dass wir langanhaltend negative Realzinsen haben werden. Das heißt, mit dem Erwerb von Anleihen ist ohne Inkaufnahme zusätzlicher Risiken etwa im Hinblick auf Währung und Bonität auch in Zukunft kaum Geld zu verdienen. Wir plädieren daher schon seit längerer Zeit für einen höheren Anteil an Substanzvermögen im Portfolio der Anleger. Im Rahmen der Vermögensverwaltung reden wir hier typischerweise von Aktien.
Was macht Sie so sicher, dass dieses Umfeld anhalten wird?
Die Kosten der Krise werden sich nicht in Luft auflösen. In den kommenden Jahren wird also die Frage in den Mittelpunkt rücken, wer die aufkommenden Lasten aus der hohen Staatsverschuldung zu tragen hat. Grundsätzlich wären hier verschiedene Ansätze denkbar. Erstens: Leistungsversprechen des Staates gegenüber seinen Bürgern werden nicht oder nur zum Teil erfüllt – Stichwort Austeritätspolitik. Diese Diskussion ist – zumindest hier in Deutschland kurz vor den Bundestagswahlen – wohl kaum wahrscheinlich. Hinzu kommt, dass gerade in Krisenzeiten der Staat gefragt ist, Nachfrageimpulse zu setzen. Versprochene Leistungen müssten daher sehr gezielt gekürzt werden. Zweitens: Der Staat verteilt das vorhandene Vermögen in der Bevölkerung um, zum Beispiel mit einer Vermögenssteuer. Insbesondere Anhänger der Sozialdemokratie begrüßen diese Idee. Unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten ist dieses Vorgehen jedoch fragwürdig, da tiefgreifende staatliche Eingriffe häufig marktwirtschaftliche Prozesse behindern und damit das Wachstum lähmen können. Beide Ansätze sind daher politisch gesehen nicht opportun. Die dritte und sehr bequeme Möglichkeit ist die „finanzielle Repression“: Verbindlichkeiten werden zwar nominal erfüllt, jedoch mit sukzessive entwerteten Zahlungsmitteln. Negative Realzinsen schmälern das Vermögen der Geldgeber und reduzieren den Wert der Verbindlichkeiten der Schuldner. Diese Methode ist politisch äußerst opportun und dürfte daher auch von den Akteuren der Wirtschaftspolitik weiterhin favorisiert werden. Ob dieses Vorgehen aber „gerecht“ ist – insbesondere für den deutschen Sparer mit einem hohen Anteil an Nominalvermögen –, ist eine ganz andere Frage.
Wie könnten Sparer ihr Vermögen schützen?
Grundsätzlich sollten immer sowohl Substanz- als auch Nominalwerte bei der Geldanlage berücksichtigt werden. Nur so lässt sich ein Vermögen hinreichend vor Inflations- und Deflationsrisiken schützen. Im aktuellen Umfeld „finanzieller Repression“ sollte allerdings der Schwerpunkt auf Substanzvermögen liegen. Für Finanzanleger gibt es beispielsweise die Möglichkeit, sich über Aktien am Produktivkapital der Wirtschaft zu beteiligen. Aktien sind langfristig eine sehr gute Anlage, weil sie eine Beteiligung am unternehmerischen Handeln sind. Unser Wirtschaftssystem fußt darauf, dass Unternehmen im Durchschnitt eine höhere Rendite erwirtschaften als Anleihen. Ansonsten würden sich Investitionen nicht lohnen, und Kredite – nichts anderes sind ja Anleihen – könnten nicht mehr zurückgezahlt werden. Sicherlich schwanken Aktien stärker als andere Anlageklassen. Mit einem langen Zeithorizont verliert die Volatilität allerdings an Bedeutung.
Vor allem das Thema Digitalisierung hat vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie an Fahrt gewonnen. Die Kurse vieler Tech-Aktien sind nahezu explodiert.
Die Digitalisierung ist ein säkularer Trend, der durch die Corona-Pandemie verstärkt wurde. Selbst wenn bald sukzessive die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie zurückgefahren werden, dürfte sich das veränderte Konsum-, Arbeits- und Sozialverhalten zumindest in manchen Bereichen manifestieren. Einer Umfrage des ifo Instituts zufolge will ein Großteil der befragten Unternehmen auch künftig verstärkt Homeoffice anbieten. Vor allem Cloud-Dienste, Kommunikationsplattformen, Streaming-Anbieter und Mobile Payment profitieren vom Strukturwandel. Durch Abonnements verfügen viele der Tech-Unternehmen zudem über relativ stabile, wiederkehrende Umsätze, was die Geschäftsmodelle in Krisenzeiten besser planbar und damit robuster macht.
Ist es jetzt zu spät für Anleger, in dieses Segment einzusteigen?
An den langfristigen Treibern dürfte sich unseres Erachtens auch in Zukunft nichts ändern. Insofern ist eine ambitioniertere Bewertung in diesem Teilsegment des Aktienmarktes durchaus gerechtfertigt. Eine Blase sehen wir nicht: Im Unterschied zur Jahrtausendwende geht die gestiegene Marktkapitalisierung der großen Tech-Unternehmen in den allermeisten Fällen mit validen und profitablen Geschäftsmodellen einher. Nichtsdestotrotz könnte es in den kommenden Monaten für Tech-Unternehmen temporär etwas ungemütlicher werden. Unternehmen aus anderen Sektoren haben bei Umsatz und Gewinn mehr Aufholpotenzial. Langfristig orientierte Investoren sollte das jedoch nicht davor zurückschrecken lassen, auf den Trend zur Digitalisierung zu setzen.
Inwiefern wird der Handelskonflikt zwischen China und den USA die Märkte 2021 beeinflussen?
Die Entwicklung der großen Wirtschaftsregionen dürfte zunehmend von Rivalitäten um die Technologieführerschaft und den Handel geprägt sein. Mit der Wahlniederlage von Donald Trump ist das Thema längst nicht vorbei. Eine Umfrage des US-amerikanischen PEW Research Center belegt, dass in den USA sowohl die Republikaner als auch die Demokraten sehr skeptisch gegenüber China sind. Insofern ist davon auszugehen, dass die Strategie zur Eindämmung der Wirtschaftsmacht Chinas fortgeführt wird – selbst wenn nun ein neuer Präsident ins Weiße Haus einzieht. Joe Biden dürfte jedoch einen multilateralen Ansatz einem Alleingang vorziehen. Der Aufstieg Chinas zur Wirtschaftsmacht lässt sich unseres Erachtens mit Handelsbeschränkungen jedoch allenfalls hinauszögern und nicht mehr zurückdrehen.
Zu den größten Profiteuren der Pandemie zählte 2020 auch der „sichere Hafen“ Gold. Kann der Preis in Zukunft noch weiter steigen?
In einem volatilen Kapitalmarktumfeld mit negativen Realzinsen stellt sich zwangsläufig die Frage nach Anlagealternativen. Gerade Gold wird in solchen Marktphasen gerne als „Anker” betrachtet. Aufgrund des geringen Gleichlaufs mit Anleihen und Aktien kann eine Beimischung von Gold dazu beitragen, ein Portfolio weiter zu diversifizieren und in Krisenzeiten wie ein Stoßdämpfer wirken. Auch gegenüber den negativen Nominalrenditen bei Anleihen ist das „tote Metall“ strukturell attraktiver geworden. Ganz langfristig gesehen dient Gold allerdings nicht zur Wertanlage. Seit 1900 lag die Wertsteigerung des Edelmetalls kaum über der Inflationsrate. Hinzu kommt das Problem der Bewertung. Gold wirft keine laufenden Erträge ab, beispielsweise Kupons oder Dividenden. Üblicherweise errechnet sich der Gegenwartswert eines Vermögensgegenstands aus den (abgezinsten) zukünftigen Erträgen. Sind – wie bei Gold – keine Ausschüttungen und Bilanzkennzahlen vorhanden, ist es äußerst schwer, dem Edelmetall nach herkömmlichen finanzwirtschaftlichen Methoden einen fairen Wert beizumessen.
Sie haben eingangs einen Zinsanstieg als großes Risiko für den Kapitalmarkt bezeichnet. Welches Zinsniveau erwarten Sie denn? Und wie lautet Ihr Ausblick für Staats- und Unternehmensanleihen?
Die Zinsen am langen Ende der Kurve können in den kommenden Jahren bei sich erholender Konjunktur durchaus etwas „atmen“. Einen starken Zinsanstieg erwarten wir jedoch nicht. Die expansive Notenbankpolitik und das geringe Produktivitätswachstum sprechen dagegen. Umgekehrt ist aber auch das Potenzial für weitere Zinsrückgange begrenzt. In vielen Regionen sind die Leitzinsen bereits negativ, und in den USA dürfte die Fed angesichts der Bedeutung des Geldmarktes davor zurückschrecken, die Leitzinsen unter null zu senken. Ganz abgesehen davon können die Leitzinsen nicht unendlich tief gesenkt werden, ohne dass sich unerwünschte Nebeneffekte einstellen. Solange also der Zinsspielraum nach unten nicht „offen“ ist, sind auch die Chancen auf weitere Kurssteigerungen am Anleihemarkt begrenzt. Wir halten daher wenig davon, sich für marginale Zinserträge hohe Durationsrisiken einzukaufen. Das Chance-Risiko-Profil am Anleihemarkt bleibt auf Sicht unbefriedigend. Unter den gegenwärtigen Umständen gilt es deshalb, die Risiken am Anleihemarkt genau abzuwägen. Dem Diversifikationsgedanken entsprechend setzen wir darauf, die Anlagen über Emittenten, Regionen und Währungen zu streuen – allerdings wohlwissend, dass der reale Kapitalerhalt mit Anleihen auf Sicht kaum möglich ist.
Welche Rolle wird das Thema ESG zukünftig am Finanzmarkt spielen?
Das Thema ESG ist kein Strohfeuer – auch wenn es im Zuge der Coronakrise etwas in den Hintergrund geraten ist. Wir beobachten drei wesentliche Triebfedern, die weiterhin intakt sind: Investoren interessieren sich verstärkt für nachhaltige Geldanlagen, die Regulatorik rund um das Thema wird deutlich verschärft, und mittlerweile lassen sich auch ESG-getriebene Performance-Unterschiede am Finanzmarkt beobachten. Der letztere Aspekt dürfte eine sich selbst verstärkende Eigendynamik mit sich bringen, die im wahrsten Sinne des Wortes „nachhaltig“ ist. Unseres Erachtens stehen wir gerade erst am Anfang dieser Entwicklung.
Das Gespräch führte Oliver Götz
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