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„Es gibt Tech-Aktien, deren Bewertung eine Fata Morgana ist“

Analyst Maik Thielen blickt auf die Chancen und Risiken des Börsenjahres 2021, verrät, warum die Cyber Security einer der großen Trends wird und warum die anstehende Dax-Reform nicht mutig genug ist.

(Foto: SBroker)

Analyst Maik Thielen blickt auf die Chancen und Risiken des Börsenjahres 2021, verrät, warum die Cyber Security einer der großen Trends wird und warum die anstehende Dax-Reform nicht mutig genug ist.

Börse am Sonntag: Herr Thielen, der Corona-Crash wurde im Eiltempo ausgebügelt. Entsprechend hoch stehen die Bewertungen an den Aktienmärkten. Gleichzeitig mangelt es weiter an Alternativen. Wie sollten Anleger 2021 ihr Portfolio aufstellen?

Maik Thielen: Grundsätzlich gilt es, das Portfolio breit über möglichst viele Regionen und Branchen zu streuen. Über eine gute Diversifikation werden mögliche Kursrücksetzer einzelner Titel wieder ausgeglichen. Wer zum Zeitpunkt des Corona-Crashs nur in DAX-Unternehmen investiert war, hat die Korrektur deutlich stärker zu spüren bekommen, als Anleger, die ihr Investment breiter gestreut hatten. Diejenigen, die nur in bestimmte Branchen oder Themen investieren, müssen deutlich flexibler sein und gegebenenfalls schnell reagieren.

Jüngst fehlte es den Märkten an Impulsen. Viele Anleger haben saftige Gewinne im Depot stehen. Könnte in diesem Jahr aus „sell in May“ „sell in March“ werden, um Gewinne zu sichern?

Das kann nur ein Blick in die Glaskugel verraten, die keiner hat. Was man aber im bisherigen Jahresverlauf sieht, ist, dass sich die Aktienmärkte durchaus in saisonalen Mustern bewegen. Nehmen wir den DAX: guter Jahresauftakt, im weiteren Verlauf ein wechselhafter Januar und gegen Ende Januar wieder ein Aufwärtsschub bis Mitte Februar und danach wieder schwierigeres Fahrwasser. Ab Mitte März kommt eine der besten Börsenphasen des Jahres, gepaart mit vielen Dividendenausschüttungen. Aktuell sind die Wolken am Börsenhimmel nicht dunkel genug, um Schutz suchen zu müssen. Übrigens: Wer in der Vergangenheit die vermeintliche Börsenweisheit „Sell in May“ wörtlich genommen hat, hat Rendite verpasst, denn eigentlich müsste es „Sell in July“ heißen.

Also lieber nicht zu ängstlich zu sein?

Angst ist grundsätzlich ein schlechter Ratgeber an der Börse. Wer sich von Angst leiten lässt, schenkt Renditemöglichkeiten her. Bei Dividendenstrategien oder ähnlichen Ansätzen hat ein „Sell in May“ keinen Platz. Daher ist es wichtig, eine Strategie zu haben und diese nicht sofort über Bord zu werfen. Auch ist es wichtig, ob man langfristig investiert oder kurz- bis mittelfristig Tradingchancen sucht. Welche Strategie steht dabei im Vordergrund? So nähert man sich der Sache besser an und weiß zu jeder Zeit genau, was man tun kann. Dazu braucht es einen klaren Plan.

Wasserstoff, E-Mobilität, Stay-At-Home Aktien, Green Tech. In der Pandemie ist viel Geld in bestimmte Branchen geflossen. Welche Trends bleiben erhalten, was wird im Rückblick nur ein Hype gewesen sein?

Corona hat Trends natürlich befeuert, doch viele der genannten Themen wären ohnehin früher oder später gekommen – nur eben möglicherweise nicht mit dieser Dynamik. Ich bin überzeugt davon, dass wir besonders bei nachhaltigen Titeln und Digitalisierungsthemen heute zwei bis drei Jahre weiter sind als wir es ohne die Auswirkungen der Pandemie gewesen wären. Und diese Trendthemen werden uns auch auf längere Sicht erhalten bleiben. Ich sehe nicht, dass wir hier in der Breite von einem kurzfristigen Hype sprechen können.

Marktteilnehmer setzen an der Börse natürlich auch immer einen Fokus – in der Pandemie waren es die Unternehmen, die trotzdem noch gut funktioniert haben. Mit Reopening-Diskussionen könnte der Fokus nun auch wieder auf die Corona-Verlierer gelegt werden und die genannten Themen könnten einen kurzfristigen Dämpfer erhalten. Daraus resultiert womöglich eine Chance für Anleger.

Einzelne Unternehmen sind natürlich sehr hoch bewertet und bei weitem nicht alle werden sich durchsetzen können, manche sind Luftnummern. Andere Unternehmen haben die Krise genutzt, um qualitativ zuzulegen. Wer differenzieren kann, setzt auf Einzeltitel. Wer das nicht kann oder möchte, wählt Fonds oder ETFs.

Wie sieht die Post-Corona-Ökonomie aus? Setzt sich der eingeleitete Strukturwandel so rasant fort wie zuletzt oder kehren wir zu alten Mustern zurück?

Die Wahrheit wird vermutlich irgendwo in der Mitte liegen. Unternehmen werden das machen, was funktioniert, effektiv und effizient ist. Nicht alles, was die Pandemie hervorgebracht hat, wird man auch in der Zukunft zu 100 Prozent so weiterführen. Nichtsdestotrotz hat Corona als „Brandbeschleuniger“ gewirkt. Digitale Strukturen zum Beispiel sind weiterhin das Maß der Dinge. So gewinnen Unternehmen an Effizienz und Schnelligkeit. Bei Unternehmen gilt es, anpassungsfähig zu sein: Wer nicht mit der Zeit geht, geht mit der Zeit.

Wird 2021 zum Jahr der defensiven Dividendenwerte?

Das heißt es jedes Jahr. Dividendenwerte und Value sollen schon seit x Jahren zulegen und besser abschneiden als andere Titel. Bislang ist das immer ausgeblieben. Ich bin kein Fan davon, händeringend auf defensive und Value Titel zu achten. Ein paar werden sich gut entwickeln, ein paar weniger gut. Value ohne Kursmomentum halte ich für schwierig. In einem breit diversifizierten Portfolio sollten solche Dividenden-Titel ohnehin enthalten sein.

Sollten Anleger die Corona-Gewinner peu a peu aus dem Depot werfen?

Der Fokus der Marktteilnehmer wird sich verschieben. Wer ein zu hohes Gewicht auf (vermeintliche) Corona-Profiteure gelegt hat, könnte ein böses Erwachen erleben, gerade bei Titeln mit sehr sportlicher Bewertung. Pauschal alles rauszuwerfen ist aber sicherlich der falsche Weg. Es hängt von der jeweiligen Aktie ab. Helfen kann bei der Entscheidung die Charttechnik.

Ist es zu spät, um Tech-Aktien zu kaufen?

Das kommt ganz auf den eigenen Anlagehorizont an. Aus Anlegersicht kann man sich zwar bestimmt bessere Zeitpunkte vorstellen, als Tech-Werte zu vermeintlich hohen Bewertungen zu kaufen. Bei einem Anlagehorizont von mehr als sechs, sieben oder zehn Jahren sollte das aber keine große Rolle spielen. Bei Einzelwerten muss man natürlich in die Einzelfallbetrachtung gehen. Es gibt viele Tech-Aktien, die qualitativ hochwertig sind. Und dann gibt es Tech-Aktien, deren Bewertung eine Fata Morgana ist. Eine Möglichkeit, sich Tech-Aktien zu nähern sind Sparpläne statt Einzelkäufe. So investiert man regelmäßig bestimmte Beträge und profitiert bei fallenden Kursen vom Durchschnittskosteneffekt. Natürlich nur, wenn die fallenden Kurse ein temporäres Phänomen sind.

Vor dem Hintergrund der voranschreitenden Digitalisierung rückt die Cyber-Security vermehrt ins Blickfeld. Ein Zukunftsfeld für Anleger?

Digitalisierung und Cyber-Security gehen Hand in Hand. Ich bin deshalb überzeugt davon, dass es in diesem Bereich gute Chancen für Anleger geben wird. Blicken Sie nur auf den Digitalisierungsgrad der Unternehmen in Deutschland: hier wird sich in den kommenden Jahren noch einiges tun müssen - in Großkonzernen, mittelständischen Unternehmen und auch Behörden. Davon profitieren dann natürlich auch Anbieter, die sich auf die Entwicklung von Digital- und Sicherheitslösungen spezialisiert haben.

Europa, USA, Asien oder die Welt? Wohin sollten sich Anleger orientieren?

Der größte Aktienmarkt der Welt liegt in den USA. Die spannendste Wachstumsregion wird wahrscheinlich Asien bleiben. Europa hat in den letzten Jahren wenig dafür getan, eine Übergewichtung der „alten Welt“ als attraktive Anlageidee erscheinen zu lassen. Wer breit diversifiziert sein möchte, baut sich ein weltweites Portfolio auf.

In welchen Branchen sehen Sie kurzfristig das meiste Potenzial?

Mit dem Fortschreiten der Impfkampagnen und der Immunisierung der weltweiten Bevölkerung sind die bereits erwähnten Reopening-Aktien einen Blick wert – also Aktien aus den Bereichen Tourismus, Events & Entertainment. Bei einer anziehenden Inflation sind Rohstoffaktien ex Gold interessant. Tech-Werte mit soliden Zahlen bieten weiterhin Potenzial.

Alles in allem wird es 2021 aber nicht mehr so leicht, an der Börse Geld zu verdienen, wie ab dem Monat April im vorangegangenen Jahr. In diesem Jahr dürften die Marktteilnehmer auch stärker auf Quartalsberichte und Zahlen von Unternehmen achten. Letztes Jahr wurde den Unternehmen in Anbetracht von Corona und Lockdowns noch einiges verziehen. Das dürfte sich nun ändern.

Wie viel Crash-Potenzial steckt noch in der Pandemie?

Das Crash-Potenzial ging nie direkt von der Pandemie, sondern von den ergriffenen Maßnahmen aus. Es wurde versucht, die entstandenen Verwerfungen mit Hilfsmaßnahmen und geldpolitischen Instrumenten zuzuschütten. Corona-Verlierer werden daran noch länger zu knabbern haben. Sollte die Pandemie nicht neue Höhepunkte und dadurch neue Lockdowns nach sich ziehen, besteht kein Crash-Potenzial. Crashs entstehen dann, wenn etwas Unerwartetes oder nicht Einkalkuliertes passiert. Jetzt gilt es, in andere Richtungen zu schauen und die Auswirkungen der Maßnahmen hinsichtlich der Inflationserwartungen und Zinsentwicklungen zu beleuchten.

Welche Folgen hat der massive Anstieg der Staatsverschuldung?

Die Staatsverschuldung an sich ist erst einmal kein großes Thema. Vater der derzeitigen Maßnahmen ist John Maynard Keynes. Um Rezessionen abzuschwächen, wurden weltweit die Staatsverschuldungen in die Höhe getrieben. Dahinter liegende Fragestellungen sind aber viel relevanter: Kann der „Schuldendienst“ weiter vollzogen werden? Können die Schulden inflationiert und durch Steuern und andere Einnahmen abgebaut werden? Wenn der Wirtschaftsaufschwung wieder kommt, spricht vermutlich in Zukunft niemand mehr über die höhere Staatsverschuldung. Auf der anderen Seite stand bei Keynes auch die Idee, Boom-Phasen ebenso wenig ausufern zu lassen – durch Steuererhöhungen und Zinserhöhungen, wenn die Wirtschaft wieder auf die Beine gekommen ist.

Bleibt das größte Risiko für die Kapitalmärkte ein Zinsanstieg?

Ein Zinsanstieg und als Vorlauf eine länger anhaltende überbordende Inflation über ein gewisses Niveau ist die derzeit größte sichtbare Gefahr. Crashs entstehen aber in der Regel aus dem, was nicht so sehr im Blickpunkt steht.

Wo steht der Dax Ende 2021?

DAX-Prognosen zum Jahresende gebe ich grundsätzlich nicht ab – ich habe derzeit auch keine Würfel zur Hand. Die Chancen sind da, dass der DAX höher steht als jetzt – aber in neun Monaten kann noch viel passieren. Daher ist es immer wichtig, ein angemessenes Risikomanagement zu betreiben.

Was halten Sie von dessen anstehender Reform?

Die DAX-Reform ist ein Schritt in die richtige Richtung. Ihn breiter aufzustellen und ihm damit mehr den Charakter eines wirklichen Börsenbarometers für den deutschen Markt zu verleihen, ist gut. Die Qualität kann sich dadurch verbessern. Ob 40 Werte dafür jedoch ausreichen und diese genug diversifiziert sind, bezweifle ich. Insbesondere, wenn noch mehr Chemie und Automobil in den Index aufsteigt. Ich hätte mir gewünscht, dass wir einen großen und wirklichen Leitindex bekommen. Diese Chance wurde aus meiner Sicht vertan.

Maik Thielen ist Börsenanalyst beim Sparkassen Broker

Die Fragen stellte: Oliver Götz