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Warum Deutsche mit 67 Jahren noch arbeiten und Franzosen nicht

Franzosen sollen bis 64 arbeiten und streiken deswegen? Ja gibt es denn das? Das Unverständnis bei den länger arbeitenden Deutschen ist groß darüber. Tatsächlich jedoch sind die Rentensystem innerhalb der EU nur schwer zu vergleichen. Die meisten von ihnen sind reformbedürftig.

(Bild: Shutterstock)

Franzosen sollen bis 64 arbeiten und streiken deswegen? Ja gibt es denn das? Das Unverständnis bei den länger arbeitenden Deutschen ist groß darüber. Tatsächlich jedoch sind die Rentensystem innerhalb der EU nur schwer zu vergleichen. Die meisten von ihnen sind reformbedürftig.
 
Das Zerrbild ist weit verbreitet: Während der deutschen Malocher noch ranschafft, Woche für Woche, Tag für Tag, bis er 67 ist, liegt der ein oder andere im Süden des Kontinents schon seit Jahren auf der faulen Haut, und wird dafür noch gut entlohnt. Durch vergemeinschaftete Schulden in der EU und einen unübersichtlichen Wust von Fördergeldern und Unterstützungsprogrammen, könnte es doch immerhin sein, dass die Steuern des Malochers die Rentenbezüge des ausländischen Ruheständlers finanzieren?
 
So schwer es im Einzelnen zu berechnen sein wird, so klar scheint doch, dass unterschiedliche Kulturen, abweichender Lebensstandard und kaum vergleichbare Ansprüche an ein nationales Rentensystem existieren. In Deutschland galt bis vor einigen Jahrzehnten die Erwartung, im Alter auskömmlich von der Rente leben zu können, die im Umlageverfahren von den jeweils aktiven Beitragszahlern für die gerade lebenden Rentner erwirtschaftet wird. Die Deutsche Rentenversicherung (früher: Bundesversicherungsanstalt für Angestellte/Arbeiter) war nur für die Verteilung und einige andere Aufgaben in Zusammenhang mit der Erhaltung der Arbeitskraft, Rehamaßnahmen und der Versorgung von krankheitsbedingt aus dem Berufsleben ausgeschiedenen Arbeitnehmern zuständig.
 
Das hat sich gründlich geändert: Mit den in den fünfziger Jahren nicht eingeplanten oder vorhergesehenen Verschiebungen innerhalb der Alterspyramide verschlechterte sich das Verhältnis zwischen Beitragszahlern und Rentenempfängern immer mehr. Aus Sicht der heutigen Arbeitnehmer steht ein Altersruhegeld von weniger als der Hälfte des letzten Einkommens in Aussicht, bei steigenden Beitragshöhen. Und dies, obwohl der Zuschuss des Staates an die Rentenversicherungsträger stets zunimmt; ursprünglich gedacht als Ausgleich für versicherungsfremde Leistungen der BfA/DRV, die sie für den Staat übernahm, wäre das System heute ohne steigende Zuschüsse nicht mehr funktionsfähig. Was natürlich auch bedeutet, dass sämtliche Steuerzahler mit dabei sind beim Bezahlen für eine Institution, von der sie nichts zu erwarten haben. Viele Selbständige, Freiberufler und Unternehmer zum Beispiel. Die Zeiten Anfang der sechziger Jahre, als sechs Arbeitnehmer einen Rentner mit ihren Zahlungen finanzierten, sind lange vorbei, diese Last schultern bald weniger als zwei Beitragsverpflichtete. Mit 67 Jahren geht der Deutsche dann demnächst in Rente (ab Geburtsjahrgang 1964 und 2031), derzeit liegt die Regelaltersgrenze bei knapp 66 Jahren. Das tatsächliche Renteneintrittsalter weicht davon allerdings erheblich ab. Zur Zeit liegt es durchschnittlich bei etwa 64 Jahren, Tendenz allerdings auch da steigend. Dennoch: Laut dem Institut für Bevölkerungsforschung ging 2021 noch jeder Dritte vorzeitig in Rente.
 
Gern blickt der Deutsche bekanntlich über den Rhein, so auch, wenn es um soziale Sicherung geht. Und erblickt in Frankreich, gerade derzeit wieder, Massenproteste gegen eine Anhebung der Rentenaltersgrenze. Angeführt von den Gewerkschaften, demonstrieren die Franzosen gegen ihre Regierung und den Präsidenten, Emanuel Macron, wegen der Pläne, das Rentenalter von 62 auf 64 Jahre anzuheben. Der „Raub des Jahrhunderts“ (aus der Rentenkasse) sei dies, so der Slogan von über einer Million Protestler in Paris. Derartige Volkserhebungen können leicht eine Regierung zu Fall bringen, weiß man aus der jüngeren französischen Geschichte. Der Deutsche staunt, und wundert sich: 64 Jahre?
 
Abschlagsfrei allerdings sind die Altersbezüge auch beim Nachbarn erst nach einer ziemlich langen und lückenlosen Einzahlungsdauer. Wer später anfing oder zwischendurch pausierte, arbeitet auch länger. Die Systematik ist ähnlich schwer durchschaubar wie in Deutschland. Es gibt in Frankreich drei übergreifende, und insgesamt gar 32 Rentensysteme, eine schnelle Analyse muss da scheitern. Es waren aber auch bei den Nachbarn mal nur 60 Jahre, bis man in den Ruhestand gehen konnte, die Zeiten sind vorbei. Dennoch: Auch in Frankreich steigt natürlich die Lebenserwartung, ist die im Ruhestand verbrachte Lebenszeit immer länger geworden. Und ähnlich wie in vielen EU-Ländern gibt es kein kapitalgedecktes staatliches System, das die Erträge für die aktuellen Rentenzahlungen aus seinem Vermögen erwirtschaften könnte – Skandinavien ist da weiter. Die Umlagesysteme in Europa leben definitionsgemäß von der Hand in den Mund, und weniger Hände bedeuten auch: weniger zu verzehren. Frankreich allerdings zeigt sich immer noch großzügiger als Deutschland, was seine Rentner angeht.
 
In Griechenland gehen die Uhren nochmals anders. Offiziell mit 62, tatsächlich mit durchschnittlich knapp 60 Jahren gehen die Griechen in Rente. Und erhalten nach langjähriger Beitragsdauer rund 84 Prozent ihres letzten Nettoeinkommens, so hat es die Organisation für wirtschaftliche Entwicklung (OECD) ermittelt. Ein deutscher Traum - solange man das griechische Einkommensniveau außer acht lässt. Schon jetzt brauchen zahlreiche Griechen zum Überleben einen Nebenjob, als Rentner, sofern ohne Familie, dann erst recht. Paradiesisch mutet es dagegen in den durchaus mit Deutschland vergleichbaren Niederlanden an: 89 Prozent des letzten Einkommens sind eine beeindruckende Zahl – wenn dafür auch eine wirklich langjährige Einzahlungsdisziplin verlangt wird. Unabhängig davon allerdings erhält jeder Niederländer eine garantierte Mindestrente von rund 1220 Euro. Daher: Wie man die OECD-Statistik auch dreht und wendet, das deutsche Niveau von um die 53 Prozent wirkt bitter.  Da kommen natürlich, ähnlich wie derzeit beim deutschen Länderfinanzausgleich, Aufrechnungsgelüste auf. Wieviel erhalten die „großzügigen“ Rentenzahlerländer aus der EU-Kasse? Können sie es sich nur mit Hilfe solcher Unterstützung überhaupt leisten, ihre Ruheständler zu verwöhnen? Es mag etwas Wahres daran sein, allerdings wird niemand es wagen, diese Büchse der Pandora zu öffnen. Denn ein einheitliches Rentensystem, noch dazu gerecht, für die ganze EU, ist wohl eher Alptraum als Wunschvorstellung. Der Weg dahin gar nicht erst ausdenkbar.
 
Ähnlich niedrige Niveaus jedenfalls, was die Rentenhöhe angeht, findet man sonst nur in Staaten des ehemaligen Ostblocks, etwa im Baltikum. Dort ist schlicht das Volksvermögen für höhere Renten nicht vorhanden, und die Steuereinnahmen sind geringer – der Staat hat nicht genug in der Rückhand. Dies lässt sich an dem Anteil der Wirtschaftsleistung (BIP) darstellen, die für Renten im jeweiligen Land aufgewendet werden. Im Fall Griechenlands sind das stolze 16 Prozent, ebenso in Italien (Rentenniveau: 82 Prozent vom letzten Einkommen); Frankreich wendet 14 Prozent auf und Deutschland muss nur etwa zehn Prozent seiner Wirtschaftsleistung für Renten ausgeben, die Höhe allerdings ist in realen Eurozahlen beträchtlich, für ein dann doch eher bescheidenes Niveau. Es rächt sich, so Wirtschaftsforscher, etwa des Instituts der Deutschen Wirtschaft (IW), dass Generationen von Politikern sich vor einschneidenden Maßnahmen wohl drücken wollten – vor der Verankerung betrieblicher und kapitalgedeckter Pensionen in einem teils obligatorischen Drei-Säulen-Modell zum Beispiel. Kapitaldeckung, wie in den Niederlanden und eben Skandinavien seit langem üblich. Von einigen Nachbarländern frühzeitig zu lernen, war für Deutschland offenbar auch keine Option – und so wird die Zukunft der Rente auf absehbare Zeit ein Zankapfel bleiben. Darunter leiden, wie auch von den Protestierern in Frankreich als besonders übel empfunden, vor allem Geringverdiener und Leute mit unterbrochenen Erwerbsbiografien. Industriebeschäftigte in Konzernen mit betrieblichen Pensionen oder auch Mitarbeiteraktien bauen dagegen auf eine sichere Bank.
 
Für den Staat wird das kein gutes Ende nehmen, so unlängst die Vorsitzende der sogenannten Wirtschaftsweisen, Monika Schnitzer. Entweder müssten frühere Renten abgeschafft werden, dazu auch noch höhere Beiträge gezahlt werden. Oder man müsse sich darauf vorbereiten, dass in spätestens 25 Jahren jeder zweite Steuer-Euro ins Rentensystem gehen müsste – ein Zeitpunkt, den zahlreiche heutige Berufstätige natürlich noch erleben werden. Amtierende Politiker dagegen weniger. Läuft alles weiter wie bisher, bleibt der Politik, je später sie agiert, umso weniger Handlungsspielraum.

Reinhard Schlieker

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