Gegenwartssorgen verhindern Zukunftskurse
Es gilt als eines der vornehmsten Merkmale des Börsengeschehens, dass man dabei einen Blick in das noch Ungeschehene erhaschen kann, wenn dem staunenden Publikum zunächst gänzlich rätselhafte Kursbewegungen präsentiert werden, welche sich erst nach längerem Nachdenken und forschenden Fragen als doch völlig logisch erweisen.
Es gilt als eines der vornehmsten Merkmale des Börsengeschehens, dass man dabei einen Blick in das noch Ungeschehene erhaschen kann, wenn dem staunenden Publikum zunächst gänzlich rätselhafte Kursbewegungen präsentiert werden, welche sich erst nach längerem Nachdenken und forschenden Fragen als doch völlig logisch erweisen.
Von Reinhard Schlieker
Kann doch gar nicht anders sein, dass Unternehmen A eine Höherbewertung verdient, weil die Firma ein Produkt in der Entwicklung hat, das in etwa einem Jahr schon heute bezifferbare Erlöse verursachen muss. Welche dann die Kosten um ein x-faches übersteigen und wiederum eine höhere Dividende geradezu unausweichlich erscheinen lässt. So oder so ähnlich verhält es sich mit den Freuden und Sorgen der Anleger in weitgehend normalen Zeiten, es verliert auch nicht der eine, was der andere gewinnt – auf lange Sicht etablierte sich noch immer der Fortschritt, der Wissens- und der Wertzuwachs. In der heutigen Um-Welt erweisen sich nun solche etablierten Wahrheiten als ungewiss und unverlässlich. Die Daten- und Faktenlage der Gegenwart ist derart unzuverlässig, dass sich eine Prognose eigentlich verbietet, was das Ende jeden Börsenhandels wäre, wenn nicht doch völlig Verzagte auf unerklärlich Wagemutige treffen würden, auf wie gewohnt täglicher Basis.
Der Preis des Pandemiegeschehens offenbart sich in der Volkswirtschaft, die das Überleben der Bürger organisiert, durch Lähmung und Behinderung. Wirtschaftliches Handeln erzeugt nicht mehr erwartbaren Gewinn. An den Finanzmärkten sind die Kurse so weit gefallen, wie man glaubt, den Folgen der Krise in etwa ein Preisschild anheften zu können. Die Unsicherheit zeigt sich natürlich in der Zunahme der Volatilität und in den Spreads, die fast schon abschreckend auf heutige Käufer wirken müssen. In Europa als gegenwärtigem Epizentrum der Corona-Pandemie ist es bis heute nicht gelungen, die Zahl der Infizierten einigermaßen verlässlich zu schätzen oder gar zu ermitteln: Daraus folgt, dass auch das Ausmaß des wirtschaftlichen Niedergangs nicht geschätzt werden kann – alle staatlicherseits locker gemachten Milliarden können sich immer noch als zu wenig erweisen, die Bazooka als nicht geladen. Das pessimistischste Szenario müsste da von einer Situation ausgehen, in welcher eine unbekannte Zahl von Infizierten einfach aus purer Überlebensnotwendigkeit zurück ins wirtschaftliche Geschehen drängen, weil ansonsten Versorgungsengpässe drohen, und dies nicht nur bei aktuell besonders benötigten Gütern wie Schutzkleidung und Ähnlichem. Den Zeitpunkt einzuschätzen, wann dies soweit sein könnte, beschäftigt mit Sicherheit bereits Experten aus verschiedenen Schulen und Sachgebieten. Es wäre die Kapitulation vor dem Virus, entstanden vielleicht auch aus der Furcht vor der Wahrheit.
Sollte es gelingen, mit einer genügend großen Zahl an Genesenen eine „normale“ Konjunktur am Laufen zu halten, wäre sicher ein Wendepunkt erreicht. Parallel dazu müsste die begründete Aussicht bestehen, der übrigen Bevölkerung eine Impfung anbieten zu können, und dies möglichst vor einer zweiten Welle der Infektion, die derzeit niemand ausschließen kann. Voraussetzung hierfür wäre ein flächendeckendes Testverfahren, was aus verschiedenen Gründen derzeit nur bei kleineren Inselstaaten (mal von Japan und Südkorea abgesehen) funktioniert. Das so erworbene Wissen lässt natürlich viel eher Zukunftsprojektionen zu. In Staaten mit ehrlicher Bestandsaufnahme plus Grenzschließungen hat man somit eine verlässliche Datengrundlage für das eigene Wirtschaften – zurückgeworfen wird man aber auch hier durch die Abhängigkeit von Import und Export, was keine Erscheinung einer angeblich so neuen Globalisierung ist, sondern Notwendigkeit seit Menschengedenken. Im Rest der Welt, und dann nun vor allem in den USA, wird sich der Fortgang erweisen und damit auch die Einschätzbarkeit der langfristigen Folgen. Es werden alle ärmer sein als zuvor, das ist ausgemacht. Und das können auch empathische und ansonsten sinnfreie Appelle nicht ändern. Die kommenden Tage und Wochen werden die USA ins Zentrum rücken, ohne Europa aus den Fängen des Virus zu entlassen. Einigermaßen redlich geschätzte Zukunftskurse kann es da kaum geben, das Börsengeschehen dürfte weiterhin erratisch wirken und auch durch längeres Grübeln sicher nicht auf einen Nenner zu bringen sein.
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