Wo sind die Wutbürger?
Griechenland ist gerettet! Dank der alternativlosen Vorschläge des großen Ministerpräsidenten Tsipras braucht das Land nun kein Geld mehr, und muss auch nichts sparen.
Griechenland ist gerettet! Dank der alternativlosen Vorschläge des großen Ministerpräsidenten Tsipras braucht das Land nun kein Geld mehr, und muss auch nichts sparen.
Die Lösung: Man verschiebt alle Ratenzahlungen auf den Zeitpunkt, an welchem alle griechischen Bürger ein auskömmliches Leben führen können, ob sie nun arbeiten oder nicht, und der Staat nach Auszahlung aller Summen, die jedem zustehen nach seinen Bedürfnissen, noch genug übrig hat, um auf etwaige Notfälle reagieren zu können: etwa den, dass die Arbeiterklasse und das Pensionariat unvorhergesehene weitergehende Wünsche haben sollten. Damit gibt es in Griechenland ab sofort keine Wutbürger mehr, und wir haben das möglich gemacht! Ein sensationelles Beispiel der Befriedung einer ganzen Nation, und das, ohne dort auf einen einzigen Bahnhofsneubau (Athen 22,5) oder Flughafen (Varoufakis International Airport) zu verzichten.
Die Europäische Union muss dafür nur im Pokern so lausig vorhersehbar bleiben wie bisher, und im übrigen es nicht so eng sehen, wann denn mal eine Rate kommen könnte, das wissen schließlich die Bürger auf dem Balkan am besten. Die EZB sorgt derweil mit ELAs (Extrem liquide Aussteuer) für den täglichen Bedarf des Landes. Können das nun bitte die Gremien der EU und die Nationalparlamente mal ein bisschen pronto beschließen, damit wir mit dem Rest des Geldes, den Griechenland nicht braucht, etwas Vernünftiges anfangen können? Auch das wird unwissentlich gefördert, das Vernünftige, von Griechenland: Weil die EU nun ein bisschen aufs Geld sehen muss, entfallen Bürokratie und Fehlplanung, der Wettkampf mit der FIFA um die durchtriebenste Mittelumleitung in die Kassen seltsamer Zeitgenossen wird gestoppt und man begnügt sich mit dem zweiten Platz – dabei hatte man eigentlich mithilfe des beeindruckenden Geflechts von Mehrwertsteuerbetrugsmöglichkeiten gerade die Nase ein wenig vorn, schade.
Aber ohne unverständliche und widersprüchliche Vorschriftensammlungen ist das künftig keine Option mehr. Eine Idee allerdings sollte man noch erwägen: Der große Ministerpräsident Tsipras, der seine Pläne schon allein damit durchsetzt, indem er sagt: „Die einzigen realistischen Vorschläge sind die griechischen“, könnte sein Konzept eigentlich recht gut auf den Rest der Eurozone ausdehnen. Denn was in Athen so schön funktioniert, kann doch gut und gerne die Morgenröte des alten Kontinents insgesamt werden, und wir alle sind dann bald auf dem Leuchtenden Pfad unterwegs, in die Schlaraffische Demokratische Republik. Soweit die Nachrichten. Und nun zu den weiteren Aussichten: Griechenland versus Resteuropa – 1:0 vor Verlängerung. Ob Institutionen, ob G7 oder Eurogruppe – den Tsipras in seinem Lauf hält wirklich gar keiner mehr auf. Die Frage ist nur, ob die Wand, gegen die sein Land zwangsläufig krachend rennen wird, von allen als solche erkannt werden wird. Es ist vorstellbar, das Athen auch ein Koma noch als Schürfwunde verkauft, und wir es natürlich für bare Münze nehmen. Wo bleiben eigentlich die europäischen Wutbürger?
Reinhard Schlieker, ZDF-Wirtschaftskorrespondent