Neue Sitten
Die Anzahl der privaten Anleger, die sich von Banken, Firmen, Finanzvertrieben und Versicherungen falsch beraten fühlen, geht in die Hunderttausende. Die Zeitschrift „Finanztest“ der Stiftung Warentest versammelt in praktisch jeder Ausgabe keineswegs nur Fälle aus dem berüchtigten Graumarkt, sondern Merkwürdigkeiten etablierter Gesellschaften zuhauf.
Immer wieder kommen da mal Eruptionen an die Oberfläche, die kurzzeitig die Gemüter erhitzen und längerfristig die Justiz beschäftigen. Im Falle von Börsengängen und Hauptversammlungsbeschlüssen, von Übernahmen und Kapitalerhöhungen werden regelmäßig Fässer aufgemacht – und meist diskret wieder verschlossen. Dass Prozesse zugunsten privater Anleger ausgehen, ist die absolute Ausnahme – mag es auch öffentlichen Aufruhr geben, wie kurzzeitig beim Telekom-Prozess, wo die Klagen in den buchstäblichen Waschkörben angekarrt wurden. Die Firmenjuristen und Investmentspezialisten sitzen in der Regel am längeren Hebel. Doch in der abgelaufenen Woche hat sich da, fast unbemerkt von der Finanzkrisen-Schlagzeilen-gebeutelten Öffentlichkeit, etwas Grundsätzliches geändert. Und es wird nie wieder sein wie früher.
Das Landgericht München registriert natürlich seit Langem die Klagen enttäuschter – und vermutlich auch getäuschter – Kunden der notorischen Immobilienbank Hypo Real Estate. Langsam mahlen die Mühlen der Justiz, doch dieses Mal womöglich auch furchtbar klein: Zwei Publikumsfonds, eine Tochter der BHF-Bank nämlich und eine österreichische Gesellschaft, haben nun ebenfalls Forderungen gegen HRE eingereicht. Für Deutschland ist das ein Novum. Bislang wurden Streitigkeiten unter den Finanzinstitutionen eher hinter verschlossenen Türen, mehr oder weniger gentlemanlike, ausgetragen. Den meisten schien der denkbare Schaden, verursacht durch öffentlichen Schlagabtausch der sich immer noch als „fein“ fühlenden Banker, größer als die zu gewinnenden Summen. Diesmal jedoch scheint es sich herumgesprochen zu haben, dass man kaum mehr eine Wahl hat. Was die Staatsanwaltschaft München in eineinhalb Jahren ermitteln und präsentieren will, sehen viele heute schon als erwiesen an: Dass die HRE ihre wahre geschäftliche Lage verschleiert und damit eine Manipulation des Aktienkurses betrieben hat, wahrscheinlich auch betreiben wollte. Wer das Papier vor einem Jahr für an die 20 Euro kaufte und den Wert des heutigen Pennystocks betrachtet (etwa 90 Cent), kommt leicht zu solchen quälenden Fragen.
Nun geht es bei den Schadensersatzklagen der beiden Fonds zwar nur um 2,5 Millionen Euro. Doch ist das für die Fondsanleger im Einzelfall durchaus viel Geld. Und es hat sich wohl herumgesprochen, dass die Fondskäufer sich nicht mehr beruhigen lassen, sondern zumindest den gleichen Zorn empfinden wie die Einzelaktionäre, die mit ihren Sammelklagen in eigener Regie vor Gericht ziehen. Die Fondsanleger würden vermutlich gegen ihre Fondsgesellschaften klagen, würden diese nicht selbst tätig werden. Daher ist zu vermuten, dass andere Investmentfonds mit der HRE-Aktie im Portfolio sich der Entwicklung nicht werden verschließen können. Das ist eine gute Nachricht. Gemauschel und Täuschung hätten damit eine Schlacht verloren, und es wäre zu hoffen, dass Transparenz und Verantwortlichkeit auch nach dem Ende der Finanzkrise dieses gewonnene Terrain nicht wieder aufgeben müssen. Nach dem Platzen der Dotcom-Blase und dem Ende des Neuen Marktes sind viele noch sehr leicht davongekommen. Es könnte sein, dass die Menschheit zwar aus Übertreibungen nicht dauerhaft lernt, dass aber immerhin die Krisenbewältigung in Zukunft etwas gründlicher vonstatten geht.