Russische Albträume
Ein Gespenst geht um in Europa. Es ist das Gespenst des Zusammenbruchs im Osten. Wenn unsereiner um seinen Lebensstandard fürchtet, aber immerhin noch in der Lage ist, um Abwrackprämien und Neuwagenerwerb auch für Empfänger steuerfinanzierter Sozialleistungen zu streiten, dann gibt es offenbar entweder eine gigantische Selbsttäuschung oder es ist eine Luxuskrise im Anmarsch.
Was uns indirekt blüht, wenn es anderswo richtig zur Sache geht, das kann man im europäischen Osten derzeit schon fröstelnd beobachten. Am Beispiel Russland. Das Land ist immer noch eine Regionalmacht, und ein Niedergang der russischen Wirtschaft unter eine bestimmte Schwelle kann durchaus in Westeuropa ein Beben auslösen. Dazu würden dann zum einen die harten Fakten, zum anderen auch die schwierige Psychologie im Umgang mit Moskau beitragen. Der Stand der Dinge war schon mal ermutigender: Russland galt noch vor einem guten halben Jahr als einigermaßen resistent. Denn man hatte natürlich einige jener Finanzprodukte überhaupt nicht, die weltweit ins Trudeln gerieten. Man hatte dagegen Rohstoffe, die noch im vergangenen Sommer begehrt waren – und teuer: Gas und Öl. Der Staat hielt riesige Devisenreserven, und die Währung hatte sich stabil entwickelt. Auch die geopolitischen Verwerfungen schienen Russland nicht viel anhaben zu können – eine dubiose Rolle im Georgien-Konflikt, eine undurchschaubare Haltung gegenüber Iran und Passivität bestenfalls im weltweiten Kampf gegen den Terrorismus zogen zumindest keine öffentlich erkennbaren Strafen nach sich. Soweit der russische Traum. Nun zum Albtraum. Der Rubel hat ein Drittel seines Wertes eingebüßt, denn die Weltfinanzkrise ist zu einer Weltwirtschaftskrise geworden, und sie bremst für niemanden. Die Rolle als Exporteur von Gas und Öl und die Abhängigkeit davon zeigt ihre hässliche Fratze wie schon in so vielen Export-Monokulturen: Der Preis ist zusammengebrochen und der Bedarf gefallen, natürlich zu einer Zeit, wo genau dies nicht passieren sollte. Um sich die Folgen auszumalen, genügt ein Blick auf die russischen Budgeterwartungen: Da wurde der Ölpreis – scheinbar konservativ gerechnet – mit etwa 70 Dollar je Barrel eingerechnet. Der aktuelle Stand von etwa 40 Dollar könnte das Haushaltsgefüge zum Einsturz bringen. Der Staatsmonopolist Gazprom kalkulierte zwar mit lediglich 55 bis 60 Dollar, liegt aber damit auch unter Wasser. Der Gaspreis wird dem Niedergang des Öls erst noch folgen. Gleichzeitig haben die Devisenreserven gelitten, denn der Staat musste tief in diese Tasche greifen, um den Verfall des Rubels zu bremsen und zu verlangsamen.
Das immerhin halten Ökonomen für eine richtige Strategie, denn dadurch konnten sich viele auf den Rückgang einstellen. Misslich wird es für die Banken, die sich international refinanzieren müssen. Die geraten nun in die Kreditklemme wie ihre ausländischen Geschäftspartner auch. Was heißt das für den Mann auf der Straße? Der ohnehin nicht eben gerecht verteilte Aufschwung ist vorbei, das Polster des Durchschnittsbürgers reicht aber keineswegs, um etwas Derartiges auszugleichen. Auf dem Land sieht es da noch düsterer aus als etwa in Zentren, wie Moskau und St. Petersburg. Die Gefahren, die sich aus einer Verarmung breiter Kreise entwickeln werden, sollten nicht unterschätzt werden. In Russland gibt es kein echtes Sozialsystem, es gibt kaum Selbstverantwortung und mittelständische Industrie. In den Schwerindustriezentren werden bei einem Niedergang schlagartig große Zahlen von Beschäftigten arbeitslos. Das Staatswesen lebt von Korruption, die Einkommensverteilung spottet jeder Beschreibung. Es geht den Machthabern in erster Linie um die Erhaltung ihrer Pfründe – da braut sich Böses zusammen. Angesichts wachsender Unzufriedenheit im Volke könnte die politische Führung versucht sein, auf eine nationalistische und chauvinistische Politik zurückzugreifen, die zu einer Gefährdung der Region führen würde. Georgien ist da nur ein Beispiel: Noch heute hält die Mehrheit der Bevölkerung den Einmarsch für richtig und die Anerkennung von Südossetien und Abchasien für eine legitime Maßnahme. Der Westen wird sich um Russland kümmern müssen, auch wenn es schwer fällt.