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Die Top 100 und die 40 Zwerge

Tech-Giganten leiden. Energieriesen feiern. US-Konzerne dominieren. Die Rangliste der 100 wertvollsten Unternehmen wurde 2022 mächtig durcheinandergewirbelt. Ein Trend hingegen hat sich fortgesetzt: Das Verschwinden deutscher Vertreter von der Liste.

(Foto: picture alliance / Daniel Kubirski | Daniel Kubirski)

Tech-Giganten leiden. Energieriesen feiern. US-Konzerne dominieren. Die Rangliste der 100 wertvollsten Unternehmen wurde 2022 mächtig durcheinandergewirbelt. Ein Trend hingegen hat sich fortgesetzt: Das Verschwinden deutscher Vertreter von der Liste.

Apple hat den Thron verloren. Dieses Ergebnis des halbjährlich erscheinenden Marktkapitalisierungs-Rankings der Wirtschaftsprüfungs- und Beratungsgesellschaft Ernst & Young (EY) machte schnell die Runde. Es steht stellvertretend für die gegenwärtigen Umschichtungen am Markt. Denn die neue Nummer Eins in den Top 100 und damit das wertvollste börsennotierte Unternehmen der Welt ist stand Ende Juni der saudische Ölmulti Saudi Armaco. Dessen Marktkapitalisierung beträgt inzwischen sagenhafte 2,3 Billionen US-Dollar. Investoren gehen aufgrund von Inflation, steigenden Zinsen, geopolitischen Risiken und Rezessionsängsten raus dem Risiko. Big Tech wird abverkauft. Value-Akten hingegen erleben ein Comeback, allen voran die aus dem Energiesektor, deren Konzerne von den stark gestiegenen Öl- und Gaspreise profitieren. Während der Börsenwert der im Ranking vertretenen Tech-Konzerne insgesamt um 28 Prozent einbrach, steigerten die Öl- und Gasunternehmen, die sich unter den Top 100 platzieren konnten, ihren Börsenwert um 19 Prozent. Alles in allem war das ersten Halbjahr 2022 aus Anlegersicht ein tiefrotes. Allein die Marktkapitalisierung der 100 teuersten Unternehmen der Welt sank in den vergangenen sechs Monaten um 17 Prozent. Das entspricht einem Wertverlust von schier unvorstellbaren 6,1 Billionen US-Dollar.

„Die massiven politischen und wirtschaftlichen Turbulenzen im ersten Halbjahr haben deutliche Spuren an den Weltbörsen hinterlassen“, ordnet Henrik Ahlers, Vorsitzender der Geschäftsführung von EY, die miserablen Ergebnisse ein. „Die erheblich eingetrübten Konjunkturaussichten, die hohe Inflation, steigende Zinsen und die massiven geopolitischen Spannungen haben zu einer tiefgreifenden Verunsicherung geführt – obwohl viele der Top-Konzerne nach wie vor hohe Gewinne ausweisen. In allen Weltregionen und fast allen Branchen verloren Unternehmen erheblich an Wert.“ Für das zweite Halbjahr ist laut Ahlers keine Besserung in Sicht. „Die Hiobsbotschaften häufen sich, viele Krisen, die sich teils gegenseitig befeuern, müssen bewältigt werden, die Gefahr einer weltweiten Rezession ist inzwischen real.“

Kein deutsches Unternehmen in den Top 100

So weit, so alarmierend. Aus deutscher Sicht ist aber noch etwas ganz anderes besorgniserregend. Zum ersten Mal seit Beginn der Erhebungen im Jahr 2006 ist kein hiesiges Unternehmen mehr in den Top 100 vertreten. Am besten schneidet noch SAP mit einem Börsenwert von 106 Milliarden US-Dollar ab, schafft es damit aber nur auf Rang 113. Die Deutsche Telekom folgt mit 98 Milliarden US-Dollar auf Rang 120. Der weltgrößte Industriegaseproduzent Linde würde es immerhin auf Rang 74 schaffen, hat aber seinen Hauptsitz seit der Fusion mit Praxair in Irland. Damit hat es kein deutsches Unternehmen ins Ranking geschafft. So setzt sich die Abwärtsspirale der vergangenen Jahre ungebremst fort. Ende 2007, kurz vor der Finanzkrise waren noch sieben deutschen Unternehmen unter den Top 100 vertreten, Ende 2021 waren es noch zwei. Jetzt ist die Bundesrepublik gänzlich von der Liste verschwunden. Auch für ganz Europa sieht es inzwischen düster aus. Ende 2007 war noch fast jedes zweite Unternehmen im Ranking ein europäisches. Jetzt finden sich insgesamt nur noch 16 Konzerne darin wieder. Und das eher auf den hinteren Plätzen. In die Top Ten schafft es kein einziges europäisches Unternehmen. Nestle auf Rang 20 schneidet noch am besten ab. Trotz des Wechsels an der Spitze dominieren die USA die vorderen Plätze und überhaupt das gesamte Ranking. Insgesamt kommen 60 der 100 wertvollsten Unternehmen der Welt aus Übersee. Unter den Top Ten platzieren sich gleich acht von ihnen: Microsoft, Alphabet, Amazon, Tesla, Berkshire Hathaway, UnitedHealth, Johnson & Johnson und Meta.

Im Technologiesegment ist der Rückstand immens

Es handelt sich bei dem Ranking von EY zwar um eines nach Marktkapitalisierung, es orientiert sich also nicht am tatsächlichen Wert der Unternehmen, sondern ausschließlich an deren Börsenwert. Überbewertungen, wie in Teilen des Tech-Sektors lange gesehen, können also Unternehmen in die Liste katapultieren, die realwirtschaftlich gesehen einen wesentlich geringen Wert haben. Dennoch wird an der Börse zum einen die Zukunft gehandelt, zum anderen ist nicht jede hohe Bewertung eine Überbewertung, siehe Microsoft, Alphabet oder Apple deren KGVs zwar nicht niedrig, aber auch nicht schwindelerregend hoch sind. Es hat also etwas zu bedeuten, im ganz und gar negativen Sinne, wenn in unter 100 wertvollsten börsennotierten Unternehmen kein einziges aus Deutschland dabei ist und nur wenige aus Europa. „Die schwache Aufstellung Europas und Deutschlands gerade im Technologiesegment sollte uns zu denken geben“, kommentiert EY-Experte Ahlers. „Vor allem in den USA ist es jungen Unternehmen in den vergangenen Jahrzehnten gelungen, völlig neue Konzepte und Geschäftsmodelle zu entwickeln und damit ganze Branchen zu revolutionieren – diese Unternehmermentalität zahlt sich aus. Europa hat in all diesen Bereichen Nachholbedarf.“

Branchenübergreifend geraten Deutschlands Konzerne ins Hintertreffen

Dass nun auch noch eine Energieversorgungskrise droht und gestandene Branchen, wie die der Chemie, hierzulande unter Druck setzt, kommt erschwerend hinzu. Der Automobilsektor leidet derweil unter fehlenden Halbleitern, während die Konkurrenz in China erstarkt. Anleger schauen in der Branche ohnehin lieber in die USA.  Tesla ist an der Börse trotz zuletzt starken Verlusten mit 677 Milliarden Euro immer noch fast sieben mal so viel wert wie Mercedes Benz und BMW zusammen. Die Deutschen Banken sind schon seit langem nur noch ein Schatten ihrer selbst. Die Commerzbank beispielsweise ist 7,4 Milliarden Euro wert. Die Deutsche Bank knapp 16 Milliarden. Die US-Bank JP Morgan 321 Milliarden Euro, also rund 43 mal so viel wie die Commerzbank und 20 mal so viel wie die Deutsche Bank. Die Marktkapitalisierung von Deutschlands größtem Pharmakonzern Bayer liegt bei 54 Milliarden Euro. Johnson & Johnson, der wertvollste US-Pharmakonzern kommt auf einen Börsenwert von 452 Milliarden Euro.

Es gäbe noch weitere Beispiele, die Deutschlands Top-Konzerne neben den neuen Top100 wie Zwerge aussehen lassen. Dazu passt, dass der Wert aller 40 Dax-Konzerne mit rund 1,44 Billionen Euro nicht einmal annähernd an den Börsenwert von Apple (2,15 Billionen Euro) heranreicht. Und Apple hat trotzdem den Thron verloren.

OG