Beitrag teilen

Link in die Zwischenablage kopieren

Link kopieren
Suchfunktion schließen
Märkte >

Jahreswirtschaftsbericht: Die große Rezession fällt aus, die Panik ist vorbei

Was hatten nicht alle gejammert: Energiepreise, Inflation, Arbeitskräftemangel. Doch jetzt kommt es anders. Fast wie im Märchen, das am Ende immer gut ausgeht, steht Deutschland robust da. Der Jahreswirtschaftsbericht, den Robert Habeck heute vorstellt, bestätigt es. Wir zählen die sieben Gründe auf, die tatsächlich Mut machen.

(Bild: picture alliance)

Was hatten nicht alle gejammert: Energiepreise, Inflation, Arbeitskräftemangel. Doch jetzt kommt es anders. Fast wie im Märchen, das am Ende immer gut ausgeht, steht Deutschland robust da. Der Jahreswirtschaftsbericht, den Robert Habeck heute vorstellt, bestätigt es. Wir zählen die sieben Gründe auf, die tatsächlich Mut machen.
 
Es ist wie im Märchen. Am Ende gewinnt das Gute nach dem Motto: Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben, lieben und shoppen sie noch heute. Vor einem Jahr hatte es nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine wirtschaftlich düster für Deutschland ausgesehen. Es schien, als braute sich der perfekte Sturm zusammen. Corona war noch nicht wirklich überwunden, da entfachte der Krieg bereits die nächste Krise in Europa. An der Börse sank die Stimmung auf den Gefrierpunkt. Die Preise für Gas und Öl stiegen im Tagesrhythmus. Die weltweiten Lieferketten waren zum Zerreißen gespannt, monatlich stieg die Inflationsrate, Experten warnten hier vor einer Insolvenzwelle, da vor rasant steigenden Arbeitslosenzahlen. Und die viel beschworene Zeitenwende schien vor allem mit einem erkauft werden müssen: mit Schulden. Das böse Wort von der „Deindustrialisierung“ machte die Runde.
 
Doch inzwischen hat sich das Chaos gelichtet, und die Menschen haben sich ins Unvermeidbare gefügt. Fast macht sich schon wieder so etwas wie Optimismus breit.  „Man spürt eine erste Erleichterung“, sagt der Präsident der Deutschen Industrie Siegfried Russwurm. Sogar von „Frühlingsgefühlen“ ist die Rede. Die Schmetterlinge im Bauch haben sieben handfeste Gründe.
 
1) Die Energiepreise sinken

Der Preis für Gas hat eine rasante Rally hinter sich, und es sieht fast so aus, als habe er sich erschöpft auf die Seite gedreht. Zunächst hatte das Ende der Pandemie im Herbst 2021 eine Preisrally angetrieben. Dann kam der Krieg und der Preis kletterte auf ein Allzeithoch. Seit Mitte Dezember geht es jedoch nach unten. Volle Speicher, ein bislang mildes Winterwetter und mehr Windenergie drückten den Preis auf ein Niveau, wie es zuletzt im vergangenen Juni erreicht worden war. An einer der wichtigsten Gasbörsen, der niederländischen TTF kostete die Megawattstunde Ende Januar 66 Euro. Auf dem Höhepunkt der bisherigen Preis-Aufwärtsspirale Ende August 2022 betrug der Großhandelspreis 346 Euro.

Experten wie Andreas Schröder vom Marktforschungsunternehmen ICIS sprechen von „Normalisierung“. Den Anstieg habe man in Teilen zwar mit dem gesunkenen Angebot aus Russland erklären können, aber nicht in dem Ausmaß. Panik habe eine Rolle gespielt und die ist eben vorbei. Dennoch ist das Preisniveau verglichen mit den Jahren zuvor, als die Megawattstunde für zehn bis 20 Euro zu haben war, hoch.

Und: Bei den privaten Verbrauchern ist zwar der Anstieg angekommen, aber mal wieder nicht der Rückgang. Eine Kilowattstunde Gas für die Wohnung kostet derzeit im Schnitt 18,4 Cent. Im Dezember zahlte ein Musterhaushalt damit circa 3600 Euro im Jahr für Gas. Vor einem Jahr lag, wie beispielsweise das Handelsblatt vorrechnet, der Preis für die gleiche Menge gerade bei 1365 Euro – der neue Preis ist damit um 163 Prozent teurer.

Auch der Ölpreis hat sich auf einem höheren Niveau stabilisiert. Zwischen 65 und 100 Dollar werde das Barrel, das 159 Litern entspricht, in diesem Jahr kosten, schätzen Rohstoffanalysten. Kurz nach Kriegsbeginn hatte dieser Preis 130 Dollar betragen. Dann zapften die USA ihre strategischen Reserven an, der Ölpreisdeckel der EU zwingt Russland sein Öl billiger zu verkaufen, die Weltwirtschaft läuft noch nicht auf Hochtouren und die Organisation der Erdölexportierenden Länder, die Opec, drosselt den Ölfluss weniger stark als gedacht. Alle Faktoren lassen den Ölpreis derzeit bei rund 85 Dollar landen.

2) Die Gewinne sprudeln

Allen Krisen zum Trotz haben die 40 Dax-Konzerne im Jahr 2022 wahrscheinlich wieder Rekordgewinne eingefahren. Noch sind die Ergebnisse fürs ganze Jahr nicht veröffentlicht, aber der Rekord war schon nach neun Monaten eingefahren. Etliche Unternehmen wie die Deutsche Telekom, der Klebstoffriese Henkel und Mercedes hatten ihre Jahresprognose angehoben. „Es scheint, dass der Schwung der ersten drei Quartale ausreicht, damit 2022 in Summe ein Rekordjahr wird“, heißt es von der Unternehmensberatung EY.

An der Börse wird das bislang gefeiert, der Dax hat mit einem Plus von 8,4 Prozent in den ersten zehn Handelstagen den besten Jahresauftakt aller Zeiten hingelegt. Vor allem die Titel, die im vergangenen Jahr am stärksten ausverkauft wurden, gehörten in den ersten Tagen des neuen Jahres zu den größten Gewinnern. Stabil ist die Lage hier nicht, das ganze riecht wie ein Strohfeuer, auf der anderen Seite ist auch nach Ausbruch des Ukraine-Krieges der ganz große Einbruch ausgebleiben. So zynisch es klingt: Der Krieg ist inzwischen in den Kursen „eingepreist“. Sonja Laud, die über die Investionen bei Legal & General Investment Management entscheidet, einer der zehn größten Kapitalsammelstellen der Welt, sagt: „Sobald genug Negativität in die Gewinnerwartungen eingepreist ist, gibt es ein größeres Aufwärtspotenzial für unerwartet positive Geschäftsentwicklungen, die sich dann in steigenden Aktienkursen niederschlagen.“ Doch sie warnt gleichzeitig vor zu viel Optimismus: „Aktien reagieren allerdings sehr stark auf geopolitische Risiken in einer multi-polaren Welt – heute viel stärker als früher.“

Was für die Konzerne gilt, lässt sich allerdings nicht eins zu eins auf den in Deutschland so wichtigen Mittelstand übertragen. Hier ist die Stimmung weniger euphorisch. Lieferengpässe und Energiekosten sind nach wie vor ein Problem für den deutschen Mittelstand, der nicht einfach wie die Großkonzerne mit der Produktion in andere Länder ausweicht. Von einer „deutlichen Belastung“ spricht die Förderbank KfW mit Blick auf die kleinen und mittelgroßen Unternehmen.

3) Die Rezession ist abgesagt

Die Bundesregierung rechnet für das laufende Jahr doch nicht mehr mit einer Rezession. In ihrer neuesten Konjunkturprognose, die der grüne Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck mit dem Jahreswirtschaftsbericht vorstellt, geht die Regierung für 2023 von einem Wachstum des Bruttoinlandsprodukts von 0,2 Prozent aus. Im Oktober hatte die Regierung noch einen Rückgang um 0,4 Prozent erwartet. Der Unterschied sind nur 0,6 Prozentpunkte, aber es ist eben der Unterschied zwischen Plus und Minus und damit von immens wichtiger Bedeutung für die Stimmung, die in der deutschen Wirtschaft herrscht. Für 2024 prognostiziert die Bundesregierung ein Wachstum von 1,8 Prozent, was wieder eher dem langjährigen Schnitt in Deutschland entspricht.

4) Die Lieferketten greifen wieder

Drei Jahre Pandemie und dann der Krieg, der auch logistische Probleme bedeutet, haben die globalen Lieferketten empfindlich gestört. Deutschland ist dabei von den ausbleibenden Vorleistungslieferungen im Vergleich zu anderen Industrienationen besonders betroffen, ergibt eine Studie im Auftrag des Verbands der forschenden Pharmaunternehmen. Danach lagen seit Mitte des Jahres 2021 die Lieferengpässe hierzulande deutlich über dem europäischen Durchschnitt. Im Sommer des Jahres 2022 gaben 85 Prozent der Industrieunternehmen in Deutschland an, von Lieferengpässen betroffen zu sein. Europaweit lag dieser Wert lediglich bei gut 50 Prozent.

Die Industrie hat jedoch mit ungeahnter Flexibilität darauf reagiert. Ihr Gegenrezept heißt: Wir bauen die Lager aus. Das Wirtschaftsforschungsinstitut ifo hat ermittelt, dass 68 Prozent der Firmen ihre Lager vergrößert haben. Fast genauso viele haben sich alternative Lieferanten gesucht. Ein kleiner Teil, nämlich 13 Prozent, sind sogar dazu übergegangen, das, was sich nicht bekommen lässt, selbst herzustellen.
Die Prognose für 2023 lässt deswegen hörbar aufatmen. Die Lieferengpässe in der deutschen Industrie haben im Dezember den dritten Monat in Folge abgenommen. 50,7 Prozent der Unternehmen litten noch darunter, dass bestellte Vorprodukte und Materialien schwer zu bekommen seien, rechnet das ifo-Institut vor. Im November waren es noch 59,3 Prozent. „Eine Auflösung der Engpässe scheint sich nun in vielen Branchen abzuzeichnen", sagt der Leiter der ifo-Umfragen, Klaus Wohlrabe. „Dies wird die Konjunktur in den kommenden Monaten stützen."

5) Die Inflation geht zurück

Die privaten Konsumausgaben, also das, was die Menschen in den Geschäften lassen, sind 2022 um schätzungsweise vier Prozent gestiegen. Grund war der coronabedingte Nachholbedarf bei vielen Dienstleistungen. Bereits im zweiten Halbjahr hat aber eine Trendwende eingesetzt. So sinken die realen Einzelhandelsumsätze, die Rahmenbedingungen haben sich verschlechtert, die Rekordinflation von knapp zehn Prozent im zweiten Halbjahr hinterlässt ihre Spuren.

Die hohe Inflation kann nicht durch Einkommenssteigerungen kompensiert werden und die Sparquote ist wieder auf Werte vor 2020 gesunken, stellt die Hessische Landesbank fest. Die Tarifverdienste dürften auch 2023 mit einem Anstieg von knapp fünf Prozent die Inflation nicht kompensieren.

Doch der Blick nach vorn macht Hoffnung. Die Zinserhöhungen, zu denen sich die Europäische Zentralbank schließlich durchgerungen hat, zeigen Wirkung. Die deutschen Produzenten verlangen immer weniger Geld für ihre Waren. Die Erzeugerpreise für gewerbliche Produkte sind im Dezember den dritten Monat in Folge zurückgegangen. Von einem „weiteren spektakulären Rückgang“, spricht der Düsseldorfer Ökonom Jens Südekum und fügt hinzu: „Für die Entwicklung der Inflation ist das ein sehr gutes Zeichen.“ Die Produzentenpreise sind der wohl wichtigste Vorläufer für die Inflation. Sie legen nahe, dass die jüngste Entwicklung bei der Inflation weitergehen dürfte. Im Oktober hatte die Steigerung der Verbraucherpreise mit 10,4 Prozent gegenüber dem Vorjahresmonat ihren Höchstwert erreicht. Seitdem geht die Inflationsrate zurück, zuletzt im Dezember auf 8,6 Prozent. „Der Kostenschub scheint seinen Hochpunkt überschritten zu haben“, sagt Commerzbank-Ökonom Ralph Solveen.

Ein Tuschelthema in der Industrie ist darüber hinaus der positive Effekt der Inflation. Die Exportnation Deutschland kann angesichts eines schwachen Euro ihre Waren beispielsweise im Dollarraum günstiger anbieten. Auch dies hat dazu geführt, dass die Konzerne 2022 gut abgeschnitten haben. Ihre Exportquote ist in vielen Fällen deutlich gestiegen.

6) Die Beschäftigung bleibt stabil

Andrea Nahles, Politikerin mit wechselvoller Karriere, mal als SPD-Vorsitzende, mal als Sozialministerin hat es inzwischen auf den Posten der Chefin der Bundesagentur für Arbeit verschlagen. Hier muss sie allmonatlich die Entwicklung am Arbeitsmarkt interpretieren. Ihre jüngste Analyse lautet so: „Im vergangenen Jahr haben die Folgen des russischen Krieges gegen die Ukraine – Preisanstiege, Unsicherheiten, aber auch die Fluchtmigration – durchaus Spuren auf dem deutschen Arbeitsmarkt hinterlassen. Angesichts des Ausmaßes der Belastungen fallen diese aber moderat aus.“ Das ist eine schlichte Untertreibung, denn die Arbeitslosigkeit ist im Jahr 2022 deutlich gesunken. Sie reduzierte sich im Vergleich zum Vorjahr um 195 000 auf 2.418.000 Menschen. Kurzarbeit als Instrument der Unternehmen, um kurzfristige Produktionsstopps zu überbrücken, spielte kaum mehr eine Rolle. Insgesamt stieg die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten von Juni 2021 auf Juni 2022 um 643 000 auf 34,45 Millionen.

Dahinter steckt ein Boom, der so ausgeprägt ist, dass er sogar zu massiven Mangelerscheinungen führt. Die Betriebe, der öffentliche Dienst – sie alle suchen händeringend neue Leute. Der Arbeitskräftemangel ist zum entscheidenden Begrenzer für Wachstum geworden. Eine seit Jahrzehnten absehbare demographische Entwicklung bremst die Wirtschaft. Die Babyboomer gehen in den Ruhestand. Die Entwicklung ist derzeit noch stärker, als eine bisher in Deutschland kaum spürbare Entlassungswelle. Sie geht bislang vor allem von US-Konzernen aus: Von Tesla bis zum Pharmakonzern Johnson und Johnson, von den Banken bis zu den IT-Giganten treten die US-Firmen auf die Bremse. Der Trend könnte Deutschland noch erreichen. Bisher zieht er aber fast spurlos vorüber.

7) Insolvenzwelle nicht in Sicht

Der Ökonom Marcel Fratzscher war nicht der einzige, aber einer der Prominentesten, der sich bisher geirrt hat. Im Oktober des vergangenen Jahres sagte Fratzscher: Er rechne mit einer Welle von Firmeninsolvenzen in den kommenden beiden Jahren. „Es ist sehr wahrscheinlich, dass über die nächsten zwei Jahre deutlich mehr Unternehmen in die Insolvenz gehen oder ihr Geschäft einstellen müssen", sagte der DIW-Chef. Bisher allerdings ist die Insolvenzwelle eher eine Art Scheinriese: Fern am Horizont zeichnet sie sich seit Jahren als große Gefahr ab. Kommt allerdings die Zeit, für die ihre Ankunft vorhergesagt ist, schrumpft sie auf ein Unter-Normalmaß. Es gibt zwar einen leichten Anstieg, aber: „Die jüngste Steigerung der beantragten Unternehmensinsolvenzen im Oktober ist im langjährigen Vergleich allenfalls ein kleiner Schritt in Richtung Normalisierung des Insolvenzgeschehens und weit weg von einer Insolvenzwelle. Insbesondere die voraussichtlich gestiegen Zahlen im Dezember 2022 weisen eher auf einen saisonalen Effekt hin“, sagt Christoph Niering, Insolvenzverwalter und Vorsitzender des Berufsverbandes und wenn er es sagt muss es stimmen, denn an sich lebt seine Zunft eher vom Gegenteil.

All dies sind Entwicklungen, die Hoffnung machen. Viele von ihnen sind natürlich mit Schulden erkauft. In Deutschland kam es auch im Jahr 2022 zu erheblichen Neuverschuldungen. Laut Statistischem Bundesamt lag die Verschuldung im Jahr 2021 bei 2,32 Billionen Euro. Bis heute stieg die Staatsverschuldung laut der Schuldenuhr des Bundes Deutscher Steuerzahler auf mehr als 2,5 Milliarden Euro. Deutschland steuert damit in diesem Jahr auf eine Schuldenquote, also den Altschulden im Verhältnis zum BIP, von 67 Prozent zu. Damit sprengt es zwar die Drei-Prozent-Grenze der Neuverschuldung, die sich die EU vorgenommen hat, aber sie existiert sowieso nur auf dem Papier. Vielmehr steht Deutschland bei allen Belastungen im internationalen Vergleich mit dieser Schuldenquote noch gut da.  Die höchste Staatsschuldenquote in der EU hat Griechenland mit 202,9 Prozent. Die Verschuldung lag 2021 in der EU bei durchschnittlich rund 92,1 Prozent und in den Euro-Ländern bei 100 Prozent des BIP. Und in den USA dürfte die Rekordverschuldung schon in den nächsten Wochen wieder zum Streit zwischen Republikanern und Demokraten führen, bei dem eine Blockade aller Ausgaben droht.

Allerdings ist vieles daran pures Showgehabe. Auch hierzulande. Denn anders als in privaten Haushalten muss der Staat seine Schulden nie zurückzahlen. Solange regelmäßige Einnahmen für den Staat bestehen und die Ausgaben nicht überwiegen, droht kein Staatsbankrott. In der Regel lösen neue Kredite auslaufende Kredite ab. Profitieren kann der Staat dabei von der Inflation. Schulden können durch die Geldentwertung und die steigenden Steuereinnahmen schneller abgebaut werden.

Unterm Strich bliebt damit die Einschätzung: Die positiven Signale überwiegen. Deutschland könnte sich noch in diesem Jahr zum Sommermärchen entwickeln.
 
Oliver Stock

Lesen Sie auch: Linde ist zu gut – für den DAX