Managerinnen: Wo bleibt der Fortschritt?
In den Neunzigerjahren sagte eine der Chefinnen eines aufstrebenden Techunternehmens den berufstätigen Frauen ein neues Zeitalter voraus. Endlich könne man mit High Heels und kleiner Handtasche ins Büro gehen, die Notwendigkeit von Reisen gäbe es bald nicht mehr, mit steigender Vernetzung und kommerziellem Internet könne man alle Meetings bald vom Büro aus abwickeln, in virtuellen Konferenzräumen, mit Videotelefonie, per Internet. War alles nur heiße Luft?
In den Neunzigerjahren sagte eine der Chefinnen eines aufstrebenden Techunternehmens den berufstätigen Frauen ein neues Zeitalter voraus. Endlich könne man mit High Heels und kleiner Handtasche ins Büro gehen, die Notwendigkeit von Reisen gäbe es bald nicht mehr, mit steigender Vernetzung und kommerziellem Internet könne man alle Meetings bald vom Büro aus abwickeln, in virtuellen Konferenzräumen, mit Videotelefonie, per Internet. War alles nur heiße Luft?
Von Aleksandra Sowa
Schnell und reibunglos sollte sie sein, die neue Zeit. Nicht mehr in High Heels – anstatt in Anzug – von einem Gate zum anderen zu rennen. Oder von Gleis zu Gleis, je nach Gehaltsstufe. Mit den Neuen Medien, so wurde uns auch versprochen, würde man auch endlich überall arbeiten können. Am Strand, in der Berghütte, auf der einsamen Insel – anytime und anywhere, dank Internet, mobilen Geräten und flachen Hierarchien, so flach wie die randlosen Bildschirme – wäre das alles bald drin, alles wäre möglich. Büro, adieu. Feste Arbeitszeiten, adieu.
Cybertariat
Wir schreiben das Jahr 2018. Fast 30 Jahre sind vergangen, seitdem das Internet kommerzialisiert wurde. Kleinteilige Büros sind tatsächlich weitgehend verschwunden. Sie wurden durch Großflächen mit mobilen Arbeitsplätzen ersetzt. Ferste Arbeitszeiten verschwinden vermutlich auch bald, wenn es nach den Wirtschaftsweisen geht, die eine Lockerung des Arbeitszeitgesetzes fordern. Der Acht-Stunden-Arbeitstag (für den vor noch nicht so langer Zeit Menschen auf die Straße gegangen und gestorben sind) sei „veraltet“. „Wir erleben gerade eine neue Form des Kapitalismus, auf dessen Schattenseite nicht mehr nur das nationale Proletariat, sondern auch das globale Cybertariat steht“, sagte der Philosoph Raphael Capurro in Agora 42. Im Gegensatz zum unterdrückten Proletariat des 19. Jahrhunderts würde das Cybertariat weitgehend fröhlich für das Kapital arbeiten – es sei eine Win-win-Situation, in der die Kapitalisten glücklich seien, weil sie viel Geld bekommen, und die Arbeitssklaven ebenfalls glücklich seien, weil sie arbeiten, konsumieren und online sein dürfen. „Das Lumpenproletariat trägt heute Jeans und Kapuzenpulli, kommt lachend daher und schenkt fröhlich seine Daten an die IT-Giganten“ , so Capurro.
Der britische Journalist Paul Mason spricht von prekären Arbeitsverhältnissen – Automatisierung würde es nur dort geben, wo nicht genug billige (menschliche) Arbeitskräfte zur Verfügung stünden. „Du feierst Dich als Teil der Berliner Kreativszene“, stand kürzlich auf einem Fernet-Branca-Werbeplakat, „Sie Dich als günstige Arbeitskraft.“ Während das Angebot der traditionellen Gewerkschaften an das neue Cybertariat lediglich aus einer Mitgliedschaft besteht (bzw. im Zahlen der Mitgliedsbeiträge), organisieren sich die Menschen selbst in Genossenschaften wie z. B. SMartDe eG (Société Mutuelle pour artistes) nach belgischem Vorbild, die ihnen „unterstützte Selbstständigkeit“ auch im Sinne des leichteren Zugangs zur Kranken- und Sozialversicherung bietet, wie Magdalena Ziomek-Frackowiak in Berlin erklärte. Damit sie, wenn die Aufträge mal ausbleiben, nicht verarmt oder ohne Rente dastehen.
Nihil Novi
„Der technologische Fortschritt seit den Siebzigerjahren hat sich größtenteils in den Informationstechnologien vollzogen“, bemerkte David Graeber in Bürokratie . Nachdem sich bereits in den Fünfzigern und Sechzigern das Tempo des wissenschaftlichen Fortschritts zu verlangsamen begann, scheint die Welt in eine neue Phase eingetreten zu sein, in der es nichts Neues gibt. Insbesondere – und den Versprechen und Bekundungen zum Trotz – gilt heute der Satz von John Stuart Mill: „Alle arbeitssparenden Maschinen, die bislang erfunden wurden, haben die Mühsal nicht eines einzigen Menschen vermindert.“ Tatsächlich hat die Digitalisierung uns bisher höchstens zu Buchhaltern, Reiseverkäufern, Paketboten und Personalverwaltern gemacht, indem immer weitere Verwaltungsschritte an die Nutzer, Konsumenten, Beschäftige und so weiter verlagert werden. Unter Palmen arbeiten zu können, leisten sich heute höchstens jene, die oben stehen und für sich die geistig anspruchsvolleren Aufgaben beanspruchen. Und ausgerechnet die wollen es nicht. „Der ‚freie Markt‘ hat zur Regulierung des weltweiten Handels ungeheure Verwaltungssysteme eingesetzt, die uns eine immense Hingabebereitschaft abverlangen“ , schrieb David Graeber in Occupy Wall Street. Das beginnt bei den intimsten Details über das Alltagsleben und endet dort, wo Technologie ursprünglich Arbeit einsparen sollte.
Unter den Errungenschaften des digitalen Fortschritts ist auch diese: Man kann einen Termin im Rathaus elektronisch vereinbaren. Was man dazu braucht, ist zuerst ein Rechner (manchmal reicht auch ein netzfähiges Smartphone), dann ein Netzanschluss, man muss Software erwerben, herunterladen und installieren (jedenfalls das Betriebssystem und einen Browser). Anschließend muss man die Webadresse des virtuellen Rathauses suchen – oder nach ihr via Suchmaschinen Ausschau halten, sich durch die Website klicken, um zum Angebot „Termin vereinbaren“ zu gelangen. Und schon kann man mit dem Ausfüllen des Formulars beginnen – es sei denn, man muss vorher noch ein Profil anlegen. Hat man alle Daten aus dem Ausweis, Kreditkarte etc. herausgesucht und eingetippt – wobei der Browser gewöhnlich dabei ein paar Mal abstürzt und/oder sich die Software oder das Betriebssystem zwischendurch aktualisieren möchten, trägt man sich für einen der noch freien Termine ein. Um anschließend festzustellen, dass die Bestätigungsmail nicht da ist. Ohne Ticket kein Termin – also noch mal von vorn. Der Termin ist leider nicht mehr verfügbar, also einen neuen anklicken, Formulare ausfüllen, nach dem einen und anderen Absturz des Browsers und zahlreichen Wiederherstellungen der Seiten abschicken und endlich Bestätigungsmail bekommen. Damit dann zum Rathaus, am Schalter voranmelden, ins Wartezimmer setzen und warten, bis die Nummer aufgerufen wird. Früher ist man ins Rathaus gegangen, hat ein Ticket gezogen und einen halben Tag auf den Termin gewartet.
Wie Asterix in Rom
Gewiss, es ist neue Technologie. Aber ist es auch ein Fortschritt? Die Vision, dass der Mensch und die Gesellschaft durch die Automatisierung und Robotik selbst besser, schneller, gesünder, leistungsfähiger und intelligenter werden, war eines der Hauptversprechen der Kybernetisierung. Das Ziel des Fortschritts sei immer der Mensch, schrieb der belgische Philosoph Pascal Chabot. Stafford Beer, einer der Pioniere der Kybernetisierung warnte in den Sechzigerjahren sogar davor, Fabriken zu automatisieren nur aus dem puren Antrieb, diese automatisieren zu können. Onlinebanking, elektronisches Bahnticket, digitales Rathaus – falls diese Innovationen Geld und Zeit sparen, dann offensichtlich nicht dem Nutzer und Bürger. Wäre es nicht eher ein Fortschritt, wenn wir die Bahn nutzen könnten, ohne vorher Ticket kaufen zu müssen (weil sie kostenlos ist), oder wenn wir gar keinen Antrag mit drei Durchschlägen brauchen, um einen Ausweis zu bekommen – sondern gar keinen Ausweis benötigten? Wozu mit autonomen Fahrzeugen Straßen sicherer machen, wenn wir die Toten wieder zum Leben erwecken könnten – und „warum braucht man einen Antigravitationsschlitten, wenn man auch ein zweites Leben haben kann?“ , fragt Graeber.
Heimlich macht sich im 21. Jahrhundert das Gefühl der Enttäuschung breit – insbesondere bei den Vierzig- und Fünfzigjährigen, erklärt David Graeber. All jene, die in ihrer Kindheit mit Visionen von Sternreisen, fliegenden Autos, Robotertieren, Trikordern, Beamen und positronischen Gehirnen konfrontiert wurden. „Sicherlich habe ich nicht erwartet, dass all die Dinge, von denen man in den Science-Fiction-Romanen las, zu meiner Lebzeit verwirklich werden würden“, gab Graeber zu. „Aber ich hätte es nie für möglich gehalten, gar nichts davon je zu Gesicht zu bekommen.“ Fühlen wir uns deswegen betrogen? Zweifellos.
Betrug am Konsumenten?
Die gebetsmühlenartige Wiederholung, dass die Politik und die Gesellschaft nicht mithalten können, weil sowohl die Geschwindigkeit als auch die Geschäftsmodelle neu seien, wirkt inzwischen eher wie Nebelschleier, der uns von der Realität ablenken soll. Um es mit den Worten von Doc Braun aus Zurück in die Zukunft auszudrücken, der nach der Landung in der Jimmy Kimmel Show keine fliegenden Autos vorfand: Was haben Sie in den letzten 30 Jahren gemacht? Tatsächlich gibt es Politiker, wie den Europa-Abgeordneten Axel Voss, die der Auffassung sind, wir würden bereits in einer Science-Fiction-Welt leben und seien nur geistig noch in der Steinzeit. Doch in der Science-Fiction-Welt – wenn man von den apokalyptischen Dystopien mal absieht, man nehme beispielsweise die Serie Star Trek (der nicht nur wegen der Hemdenfarbe der Offiziere kommunistische Sympathien unterstellt wurden) – gibt es keine sozialen Klassen mehr, keine Unterteilung in Rassen, Geld ist ein Relikt und körperliche Arbeit wird durch Automatisierung ersetzt.
Die Menschheit braucht in der Zukunft gewiss kein Onlinebanking – weil sie kein Geld benutzt –, und der Fußboden im Raumschiff Enterprise reinigt sich automatisch. „Die heutige Wirklichkeit“ allerdings, so Richard Barbrook, sei eher eine „Betaversion des Science-Fiction-Traums“ . Alles wird zwanghaft digitalisiert und automatisiert, mit dem Ergebnis, das der ehemalige Vodafone-Deutschland-Chef, Torsten Dirks, in dem legendären Satz zusammenfasste: „Wenn Sie einen Scheißprozess digitalisieren, dann haben Sie einen scheiß digitalen Prozess.“ Die Welt der digitalen Verwaltung gleicht eher der aus einem Asterix-Comic als einer Science-Fiction-Vision.
Cui bono?
Ambivalenz der Technologie ist etwas Fatales an sich, sagte Pascal Chatbot, Technologie ist Werkzeug, kann aber auch eine Waffe sein. Ambivalenz bedeutet aber nicht nur und nicht sofort den Einsatz von Kriegsrobotern. Sie manifestiert sich in der täglichen Anwendung der Technologie. Evgeny Morozov bebilderte es auf der Konferenz „Digitaler Kapitalismus“ mit dem Beispiel des unterschiedlichen Ansatzes der Technologie auf dem Flughafen: Beim Check-in kämpfen die Passagiere der Economy-Class mit den Check-in-Automaten oder dem Online-Check-in, während der Service für Business-Class-Passagiere immer noch von Menschen am Check-in-Schalter verrichtet wird. Der Check-in am Schalter geht schnell – während sich der Rest der Passagiere mit einem (schlecht programmierten) Automaten abmühen müssen. Die Situation am Check-out ist genau umgekehrt: Nach dem Aussteigen ziehen die Business-Class-Passagiere ihre Pässe durch einen automatischen Dokumentenleser – während der Rest der Passagiere an der – bemannten – Passkontrolle anstehen darf.
Für die einen bedeutet Technologie Schnelligkeit und Zeitersparnis – für die anderen Mühe, Zeit und nicht selten Ärger. Anstelle ein Instrument zur Vereinfachung unseres Lebens zu sein, wird Technologie zur Waffe, die sich gegen jene richtet, die sich es nicht leisten können oder wollen, mehr zu bezahlen. Digital Divide vollzieht sich heute nicht mehr nur zwischen denen, die Zugang zu den Technologien haben, und jenen, die ihn nicht haben, sondern zwischen denjenigen, die sich eine sichere, stabile etc. Technologie leisten können – und denjenigen, die es nicht tun. Oder zwischen denen, die es sich leisten können, die digitalen Technologien nicht zu nutzen, und denjenigen, die gezwungen werden, dies zu tun.
In Summa Technologiae unterzog Stanislaw Lem den wissenschaftlichen Fortschritt einer Analyse und empfahl, ihn unter Kontrolle zu bringen. „Die Wissenschaft“ – und es sei daran erinnert, dass er diese Worte in den Jahren der ersten Weltraumreisen schrieb – „gewinnt eine Partie nach der anderen“ gegen die Natur und lasse sich von ihren Siegen derart verwickeln, dass sie nur noch Taktik anstelle einer Strategie betreibt. „Der embarras de richesse, die Informationslawine, die der Mensch durch seine Erkenntnisgier ausgelöst hat, muss unter Kontrolle gebracht werden“, so Lem, sonst würden uns unsere Siege und die „plötzlich sich eröffnenden phantastischen neuen Handlungsmöglichkeiten“ den Blick auf andere Möglichkeiten versperren, „die auf lange Sicht vielleicht viel wertvoller sind“.