Asiens Riese muss sich strecken
Chinas Wirtschaft fehlen die technologischen Impulse. Der Mangel an Know-How behindert die Innovationskraft und könnte somit den Fortschritt des gesamten Landes gefährden.
Chinas Wirtschaft fehlen die technologischen Impulse. Der Mangel an Know-How behindert die Innovationskraft und könnte somit den Fortschritt des gesamten Landes gefährden.
„Wir wollen den friedlichen Aufstieg Chinas unterstützen.“ Das sagte Barack Obama während seiner Asienreise im April in Tokio. In diesem einen Satz machte der amerikanische Präsident gleich zwei bedeutende Aussagen, die die aktuelle Lage um die globale Führungsdebatte und die Veränderung der Machtverhältnisse im Weltmarkt gut beschreiben. Erstens lässt dieses Statement keine Zweifel daran, dass China ein großer aufstrebender Stern am globalen Wirtschaftshimmel ist. Daran ist nichts neu oder besonderes. Aber in diesem Zitat steckt auch noch eine zweite unterschwellige Botschaft: Und zwar die Angst, dass das „Reich der Mitte“ zum Mittelpunkt des globalen Finanzsystems werden könnte.
Eine aktuelle Umfrage der „German Marshall Foundation“ ergab, dass fast zwei Drittel der US-Amerikaner China für eine ökonomische Bedrohung halten. Sie sehen die positive wirtschaftliche Entwicklung des Landes also sehr kritisch. In Nordeuropa bietet sich hingegen ein anderes Bild: In Schweden meinen zwei Drittel der Bevölkerung, dass Chinas Aufstieg eine Chance für die ihre Wirtschaft ist. Auch fast 60 Prozent der Deutschen sehen in Chinas Aufstieg etwas Positives für Deutschland.
Eine Woche nachdem Obama mit seinem Statement in Tokio zitiert wurde, veröffentlichte die Financial Times einen Artikel mit der Überschrift „China wird die USA in diesem Jahr als weltweit führende Wirtschaftsmacht ablösen“. Die Zeitung bezieht sich damit auf die Bruttoinlandsprodukte der beiden Länder. Denn Chinas BIP für 2014 wird erstmals höher als das von den Vereinigten Staaten sein. Das Liniendiagramm mit den zwei Graphen der beiden Länder ging um die Welt und durch sämtliche Wirtschaftsmedien. Aber hat dieses „historische Ereignis“, zu dem es gleichermaßen Zeitungen und Populärwissenschaftler stilisieren, tatsächlich die Weltordnung verändert? Bisher nicht. Denn es handelt sich dabei lediglich um Zahlen, deren Aussagekraft man anzweifeln kann. Weder die Menschen in den USA noch die Chinesen haben ihr Leben, ihre Arbeit oder ihren Alltag nach diesem Ereignis verändert. Gleichwohl hat diese Statistik der Wirtschaftswelt wieder einmal vor Augen geführt, was im China der Gegenwart ökonomisch passiert.
Eine Studie des Londoner Professors Danny Quah zeigt sehr anschaulich, dass sich das wirtschaftliche Zentrum der Macht nach Osten verschiebt. Gemessen werden dabei alle Finanzströme weltweit. In den letzten 30 Jahren hat sich dieser Punkt um 5.000 Kilometer ostwärts bewegt. Früher lag er inmitten des Atlantiks zwischen der alten und der neuen Welt, zwischen Amerika und Europa, kurz: im Westen. Für 2050 erwartet der Wissenschaftler den Punkt zwischen Indien und China.
Das Wirtschaftswachstum ist herausragend
Die durchschnittliche Wachstumsrate der letzten zehn Jahre liegt in China bei fast zehn Prozent. Das ist eine herausragende Zahl, doch die letzten vier Jahre haben diesen Schnitt nach unten korrigiert. Während die Wirtschaft Asiens in der „Finanzkrise des Westens“, wie sie dortzulande bezeichnet wird, seine Stärke demonstrieren konnte, läuft es seit 2010 nicht mehr so ausgezeichnet. Auch von diesen Zahlen ausgehend, warnen erste Experten, dass sich das chinesische Wirtschaftswachstum in den nächsten Jahre womöglich nicht mehr in gewohntem Maße entwickeln wird.
Ärmere Länder wachsen tendenziell wirtschaftlich schneller als Reiche. Diese Tatsache wird auch Catch-Up-Effekt (Aufholeffekt) genannt. Demnach kann das Pro-Kopf-Einkommen von Entwicklungsländern schneller steigen als das Einkommen in Industrienationen. Die Geschichte hat jedoch gezeigt, dass Entwicklungsländer ihr Potenzial häufig nicht ausnutzen und in der sogenannten „middle-income-trap“ gefangen werden. Dabei stagniert das Wachstum des Pro-Kopf-Einkommens in einem bestimmten Bereich mittleren Einkommens. Zwei weitere BRICS-Länder, Brasilien und Südafrika haben sich viele Jahrzehnte in dieser Falle befunden. Daran anlehnend prüfen viele Ökonomen die Wahrscheinlichkeiten dafür, dass sich auch die größte Volkswirtschaft der Welt in der middle-income-trap wiederfinden wird.
Aus der Vergangenheit hat sich gezeigt, dass eines der größten Probleme von Ländern mittleren Einkommens ihre unausgewogene Wirtschaft ist. Selbiges kann man gegenwärtig auch im fernen Osten beobachten. Denn Chinas Handelsbilanz ist zwar positiv in dem Sinne, dass die Exporte gegenüber den Importen überwiegen. Dies ist sie aber in einem solch extremen Maße der Fall, dass Ökonomen zu starke Abhängigkeitsverhältnisse anprangern. Seit 2009 kann sich China Exportweltmeister nennen. Von 2003 bis 2008 trug Deutschland diesen Titel noch mit Stolz. Inzwischen ist China in dieser Statistik weit voraus. Im vergangenen Jahr exportierte die chinesische Volkswirtschaft Güter im Wert von 2.209 Milliarden US-Dollar. Das sind 40 Prozent des BIPs.
Fast 370 Milliarden US-Dollar an Gütern gingen davon in die Vereinigten Staaten. Darauf fußt momentan zwar der Erfolg des Landes, darin liegt aber auch eine große Gefahr für die chinesische Wirtschaft. Denn das Land ist im Laufe der letzten Dekaden extrem vom amerikanischen Absatzmarkt abhängig geworden. Die USA sind gleichzeitig auch Chinas größter Konkurrent auf dem Weltmarkt. Amerika kämpft um seine hegemoniale Stellung und bietet noch einen westlichen Gegenpol zum aufstrebenden Ostasien. Kulturell und besonders politisch gibt es zwischen den zwei Großmächten China und den USA starke Differenzen. Unter diesen Gesichtspunkten ist Amerika für China in Krisenzeiten und Konflikt-Situationen wohl kein besonders kooperativer Partner und damit eine Gefahr für das Wirtschaftswachstum.
Während europäische Bauern unter dem Handelskrieg zwischen Russland und dem Westen leiden, weil Putin die Einfuhr von Agrarprodukten aus der EU und den USA gestoppt hat, könnte China nun davon profitieren. Denn die 4300 Kilometer lange Grenze zwischen Russland und China, die im vergangenen Jahrhundert aus ideologischen Gründen häufig Streitpunkt war, eröffnet dem Reich der Mitte jetzt neue Türen. Insbesondere die nordchinesischen Provinzen planen nun so schnell wie möglich Lebensmittel nach Russland zu exportieren. Dazu hat die Staatsregierung kurzerhand zwei neue Zollstationen eröffnet und die Provinzregierung von Heilongjiang grenznah zu Vladivostok mit dem Bau eines Großhandelsmarktes begonnen. Das ist flexibler Kapitalismus und Markwirtschaft vom Feinsten. Mit süßsaurem Beigeschmack.
Neben der unausgeglichenen Handelsbilanz sieht sich das „Powerhaus Asiens“ auch internen Problemen gegenüber. Denn das Land ist geteilt. In viele Ethnien, Sprachen und Kulturen. Besonders aber in einen wirtschaftlich starken Ostteil und einen unterentwickelten Westteil des Landes. Seit Deng Xiaoping rund um das Jahr 1980 mit der Reform- und Öffnungspolitik Chinas ökonomische und politische Ausrichtung zum Westen hin öffnete, schafften mehr als 600 Millionen Menschen den Weg aus der Armut. Jedoch leben in China noch immer rund 200 Millionen Menschen mit weniger als einem US-Dollar pro Tag - vornehmlich im ruralen Westen des Landes. Schon eine leichte Aufwertung des Renminbi Yuan - so wie es immer wieder zur Diskussion steht - würde die Bevölkerung in Westchina hart treffen.
Das größte Defizit, um eine langfristig positive Entwicklung zu gewährleisten, liegt aber in der fehlenden Innovationskraft. Der „Technology-Faktor“ ist einer der wichtigsten um als Land mittleren Einkommens zu einem Industriestaat aufzusteigen. Südkorea hat dies bereits in den 1980er und 1990er Jahren vorgemacht und somit die middle-income-trap vermieden. Bisher konnte China sich durch billige Produktion auf dem Weltmarkt etablieren. Das allein reicht nun aber nicht mehr um dauerhaft hohe Wachstumsraten zu generieren. Die Erstellung von High-Tech-Gütern kann einer Volkswirtschaft einen enormen Schub geben.
Diese Branche ist in der Volksrepublik noch stark unterentwickelt. Denn dort gibt es kein Silicon-Valley, etwa in den Hügeln nördlich von Peking, kein chinesisches Siemens und keine Start-Up-Szene. Zweifelsohne werden in China Unmengen an Technik produziert und exportiert. Meistens sind es aber nur die „einfachen“ Schritte der globalen Wertschöpfungskette, wie das Zusammensetzten von iPhones in großen chinesischen Werken, etwa in der Foxxcon-City Shenzhen. Intelligenz und Innovationskraft kommen aus dem Westen. Alibaba, Baidu oder Weibo sind zwar hocherfolgreiche Internetunternehmen. Doch streng genommen profitieren sie nur von der großen chinesischen Firewall, die den Internetzugang zu ihren westlichen Vorlagen eBay, Google und Twitter blockiert.
Fazit
Zwei Drittel der Weltbevölkerung leben in Asien. Der Markt ist riesig und die Aussichten sind gut. Doch wenn China nichts an seinem Wirtschaftsportfolio ändert, werden die Wachstumsraten früher oder später stottern. Erste Anzeichen dafür lassen sich aus dem schrumpfendem Wirtschaftswachstum der letzten Jahre bereits ablesen. Am Beispiel der chinesischen Reaktion auf Russlands Boykott von westlichen Agrarprodukten zeigt sich wie flexibel chinesische Unternehmen doch sein können. Immer bedeutender wird in seiner weiteren Entwicklung aber der Faktor Innovation, der in China bisher noch weitgehend fehlt. Aber nur damit kann China langfristig in den Kreis der großen Industrienationen stoßen.