„Europa ist zu oberlehrerhaft“
Nicola Beer, Vizepräsidentin des EU-Parlaments, kritisiert die eigenen Entscheidungswege. Was muss sich ändern, damit Europas Unternehmen wettbewerbsfähig bleiben?
Nicola Beer, Vizepräsidentin des EU-Parlaments, kritisiert die eigenen Entscheidungswege. Was muss sich ändern, damit Europas Unternehmen wettbewerbsfähig bleiben?
Von Anke Henrich
Die Diagnose ist bekannt: Europas Wirtschaft steht im internationalen Wettbewerb am Scheideweg. Aber: Welche Therapie ist die richtige? „Vor allem muss das Europäische Parlament schneller werden und es muss sich strategisch und geopolitisch stärker aufstellen“, forderte Nicola Beer, Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments, auf dem Ludwig Erhard Gipfel am Tegernsee. „Aber das funktioniert nur, wenn das Prinzip der Einstimmigkeit unter den 27 Mitgliedern in bestimmten Bereichen aufgehoben wird.“
Die FDP-Politikerin wurde konkreter: „Spätestens bei der Erweiterung der EU auf 30 oder 35 Mitglieder müssen unsere Entscheidungswege verschlankt werden. Das ist Pflicht.“ Und sei auch unter Berücksichtigung der Europäischen Verträge machbar. Schnellere Reaktionen und Regulierungen sicherten die europäische Wettbewerbsfähigkeit aber auch nur, wenn „zugleich die Hälfte der bestehenden Regeln abgeräumt wurde“, sagte Beer.
Vorteil Europa, Nachteil China
Um im Wettbewerb um neue internationale Märkte zu bestehen und die EU-Initiative Global Gate Way als Alternative zur chinesischen neuen Seidenstraße attraktiv zu machen, brauche es aber noch mehr. „Wir Europäer treten im Ausland zu oberlehrerhaft auf“, kritisierte sie.
Beer gab sich überzeugt, dass die EU-Initiative trotz der seit mehr als zehn Jahren erfolgreichen chinesischen Projekte zum Aufbau interkontinentaler Handelsbeziehungen mithalten könne. „Diese Länder werden realisieren, dass die Chinesen nur auf ihren eigenen Vorteil aus sind und die Wertschöpfung in China stattfindet.“ Im Unterschied dazu setze Global Gate Way auf Gewinn für alle Beteiligten.
Chinas Griff nach Normen
Aber auch dieses internationale Engagement allein reicht aus Sicht von Dirk Stenkamp, Vorstandsvorsitzender von TÜV Nord, nicht aus, um Kapital und Knowhow in Europa zu halten oder auszubauen. Er warnte Politik wie Unternehmen: „Wer entwickelt, setzt die Normen und damit die Standards der Zukunft im internationalen Wettbewerb. Doch bei deutschen und englischen Unternehmen hat das Interesse spürbar nachgelassen, sich für gemeinsame Normen international zu engagieren.“ Im Gegenzug dazu flute China beinahe die entsprechenden Gremien weltweit.
„Wer schreibt, bleibt“, brachte es Stenkamp auf den Punkt. Der Experte blickt aus dieser Sicht besorgt auf die Zukunft. „Normung erzeugt eine Geschwindigkeit, auf die die Industrie reagiert. Bei Künstlicher Intelligenz und anderen Zukunftstechnologien sind wir in Deutschland und Europa zu langsam.“ Sein Appell an die Unternehmer: „Schicken Sie Ihre besten Leute in die Normungsgremien.“
Europäisches Mindset fehlt
Entscheidungen, Normen – Europas Zukunft liegt auch am Faktor Mensch. „Wir haben noch kein europäisches Mindset“, beobachtet Nico Nusmeier, CEO der Schörghuber Unternehmensgruppe. Der Niederländer kann es beurteilen. Er spricht sechs Sprachen, hat in acht europäischen Staaten gelebt und gearbeitet.
„Wir vergleichen uns innerhalb der EU gerne mit anderen. Doch der Schlüssel zu Veränderungen ist nicht, zu fragen, was können wir besser als andere, sondern, wo können wir uns mit unseren Stärken ergänzen“, ist er überzeugt. „Spanische Agilität, osteuropäische Leistungsbereitschaft, deutsche Effizienz, der offene Blick der Skandinavier – wir könnten uns in Europa gegenseitig enorm positiv bestärken.“