Inflation, Zinsen, Value-Comeback: 10 Thesen für 2022
Nach dem zweiten Pandemiejahr schauen Anlegerinnen und Anleger mit einer Mischung aus Hoffnung und Bangen auf das Jahr 2022. Die mögliche Zinswende in den USA überlagert dabei alles. Worauf kommt es noch an? Was sind die entscheidenden Entwicklungen? Ein Überblick.
Nach dem zweiten Pandemiejahr schauen Anlegerinnen und Anleger mit einer Mischung aus Hoffnung und Bangen auf das Jahr 2022. Die mögliche Zinswende in den USA überlagert dabei alles. Worauf kommt es noch an? Was sind die entscheidenden Entwicklungen? Ein Überblick.
Von Tilmann Galler, Kapitalmarktstratege bei J.P. Morgan Asset Management
1. Wachstum über Trend – aber weniger kraftvoll
Mit der Pandemie haben die Märkte zunächst einen tiefen Absturz und dann eine kräftige Erholung erlebt. „Wir nehmen noch ein gewisses Momentum mit ins Jahr 2022, aber wir rechnen mit einer Rückkehr zur Normalität“, sagt Galler. Zwar gibt es weiterhin in vielen Industrieländern expandierende Einkaufsmanagerindizes und ein positives Investitionsumfeld, aber die staatlichen Stimuluseffekte sind nicht mehr so ausgeprägt wie in 2021. Das Wachstumsmomentum nimmt also ab. Laut Ökonom Tilmann Galler sind aber auch die Ersparnisse der Privathaushalte nicht aus den Augen zu verlieren, denn das Gesamtvermögen hat sich durch die Pandemie enorm gesteigert, während sich parallel die Verschuldung stark reduziert hat. „Finanziell gesehen geht es beispielsweise den US-Privathaushalten blendend, sie sollten also weiterhin zu einem positiven US-Wachstum beitragen, das ja zu zwei Dritteln vom privaten Konsum abhängt.“ Europa steht den USA nicht viel nach, denn auch hier haben viele staatliche Programme die Nachfrage gefördert – gerade in der Peripherie.
Allerdings gibt es weiterhin den Unsicherheitsfaktor der Pandemie, die auch im neuen Jahr ein Wegbegleiter bleibt, die Parameter immer wieder neu verschiebt und Auswirkungen auf das Wachstum haben wird. „Wir sehen inzwischen eine gewisse Saisonalität, also dass gerade in den Wintermonaten die Aktivitäten eingeschränkt werden und dann in der wärmeren Jahreszeit Nachholeffekte stattfinden“, erläutert Galler. Der aktuelle Bremseffekt könne also eine aufgeschobene Nachfrage im zweiten oder dritten Quartal nach sich ziehen.
2. Asien feiert ein Comeback
Asien hat im letzten Jahr die Erwartungen nicht erfüllen können. Die Entwicklung war insbesondere in China sehr schwach, nachdem dort bereits Anfang 2021 der „geldpolitische Gürtel enger geschnallt wurde“, etwa um gesellschaftliche Ungleichgewichte zu beseitigen. Aber auch der gesamte ASEAN-Bereich litt 2021 weiter unter der Pandemie, nicht zuletzt wegen der Abhängigkeit vom Tourismus. „Für 2022 erwarten wir zumindest für den Nordosten Asiens ein Comeback. Obwohl in China zukünftig auf Wachstum mit nachhaltigerer Qualität gesetzt wird, sehen wir kurzfristig wieder mehr fiskalische Aktivität, um eine ‚harte Landung‘ zu vermeiden. Und auch in Südostasien und der ASEAN-Region sollte sich die Lage verbessern. Die großen fundamentalen Wachstumsthemen, die das asiatische Jahrzehnt prägen sollten, bleiben trotz der zyklischen Verwerfungen weiterhin bestehen. Nicht zuletzt zeigt Japan aktuell eine bemerkenswerte Beschleunigung und viel aufgestaute Nachfrage, die sich positiv auswirken sollte“, ist die Prognose von Tilmann Galler. Aus Investorensicht ist es also gerade ein interessanter Zeitpunkt, sich der Region wieder zu nähern.
3. Der Preisauftrieb verliert an Schärfe
Die Inflationsdynamik sollte in 2022 nachlassen, aber selbst wenn die Inflationsraten sinken, dürften sie mittelfristig über dem Niveau liegen, mit dem sich Zentralbanken wohl fühlen. Es werden sich nach Einschätzung von Tilmann Galler nicht alle inflationären Komponenten wieder entspannen. Beim Ölpreis hat die OPEC beispielsweise das Angebot wieder erhöht, nachdem die Nachfrage aktuell fast schon wieder auf Vorkrisenniveau ist. Aber die Schieferölproduktion in den USA stockt und das Angebot wird viel zögerlicher erhöht als nach vorherigen Krisen. Ein Grund ist nach Einschätzung von Ökonom Galler neben finanziellen Engpässen auch der politische Druck aufgrund des Umweltaspekts, weshalb diese Produktionsquelle weniger flexibel als zuvor auf die erhöhte Nachfrage reagieren kann, was den Grundstein für einen dauerhaft erhöhten Ölpreis legen kann. Die Produktions- und Transportkapazitäten passen sich wiederum langsam an die hohe Güternachfrage an, was im Laufe des nächsten Jahres zu einer Entspannung führen dürfte.
Nachhaltigere Inflationsrisiken sind dagegen vom Arbeitsmarkt zu erwarten. „Unternehmen sind gezwungen, angesichts des Arbeitskräftemangels höhere Löhne zu zahlen und werden die höheren Kosten so gut es möglich ist an die Verbraucher weitergeben. Diese Lohn-Preis-Spirale treibt die Inflation weiter in die Höhe. Fallende Arbeitslosigkeit und höhere Löhne machen sich auch als Preistreiber bei Wohnungsmieten bemerkbar“, stellt Galler fest.
4. Die Zentralbanken ziehen sich zurück – erste US-Leitzinserhöhung
Angesichts dieser Inflationsentwicklung ist auch von den Zentralbanken eine Rückkehr zu mehr Normalität in der Geldpolitik zu erwarten. „Der Fuß wird bereits jetzt langsam vom Gas genommen und die Liquiditätsversorgung eingedämmt“, erklärt Galler. Die Federal Reserve und die Bank of England sollten im Verlauf des nächsten Jahres Zinsschritte einleiten, aber sie dürften mit großer Vorsicht aufgrund der pandemischen Lage agieren.
5. Der Anker löst sich am kurzen Ende – Renditen steigen auf breiter Front
Mit der beginnenden Normalisierung der Zentralbanken wird nach Einschätzung von Tilmann Galler Bewegung in die Zinskurve kommen und sie dürfte sich nach oben verschieben. „Wir rechnen also durchaus weiterhin damit, dass im nächsten Jahr die Duration unter Druck bleibt, aber eben auf breiterer Basis, also nicht nur am langen, sondern auch am kurzen Ende“, betont Galler.
6. Unternehmensanleihen stärker als Staatsanleihen
„Wir trauen den Unternehmensanleihen aufgrund der starken Ertragslage der Unternehmen weiterhin zu, Staatsanleihen zu schlagen und dieses Momentum sollte durch das Jahr 2022 hindurch anhalten“, erläutert der Kapitalmarktstratege. Der Trend fallender Ausfälle im Hochzinssegment aus dem Jahr 2021 ist ein Spiegelbild dieser Entwicklung und sollte sich im neuen Jahr fortsetzen.
7. Unternehmensgewinne steigen – doch Marge fällt
Tilmann Galler ist sicher: „Auch wenn die besten Quartale bereits hinter uns liegen dürften, sollten die Unternehmensgewinne weiter steigen. Unternehmen werden sich aber zunehmend über die Kostenseite bewusst und bemerken Druck auf die Margen.“
8. Value schlägt Growth – Dividendenrendite wird wichtiger
In einem Umfeld anhaltend hoher Rohstoffpreise und steigender Zinsen könnten Value-Titel im Jahr 2022 vorn liegen. Nach drei Kalenderjahren mit teils kräftigen Kursgewinnen dürfte das nachlassende Gewinnmomentum das zukünftige Ertragspotenzial bremsen. Dividendenstrategien sollten im neuen Jahr wieder eine größere Rolle spielen.
9. Volatilität steigt im Vergleich zu 2021
Aufgrund der Normalisierung der Geld- und Fiskalpolitik und dem im Vergleich zum Vorjahr geringeren Wirtschaftswachstum erwartet Tilmann Galler, dass sich in 2022 eine höhere Volatilität zeigen wird. Die Unwägbarkeiten der Pandemie und der Geopolitik könnten noch zu zusätzlicher Nervosität am Markt führen. „Als alternative Diversifizierungsquellen für das Portfolio bieten sich gerade bei erhöhten Marktschwankungen Makro-Strategien an“, unterstreicht der Ökonom.
10. Energiewende als Treiber für Rohstoffpreise
Sind Energie- und Rohstoffunternehmen Teil des Problems oder Teil der Lösung? Fest steht laut Tilmann Galler, dass die proklamierte Energiewende ihren Preis haben wird und nach Schätzungen der Internationalen Energieagentur einen zusätzlichen Finanzierungsbedarf in Höhe von 1,6 Billionen Euro pro Jahr bis zum Jahr 2030 erfordert, etwa für den Ausbau der alternativen Energiegewinnung und neue Infrastruktur. Dies hat auch Implikationen für die Märkte. Die stärkere Regulierung der fossilen Energie hat dafür gesorgt, dass aktuell wenig Investitionen in diesem Segment und auch bei der Rohstoffgewinnung getätigt werden. Doch die Nachfrage nach Rohstoffen steigt – gerade auch durch die Energiewende. So hat ein Elektroauto einen sechsmal höheren Bedarf an mineralischen Rohstoffen bei der Erstellung, beispielsweise an Kobalt, Lithium oder seltenen Erden, aber auch Kupfer. „Ohne die nötigen Rohstoffe wird es schwierig, die Net-Zero-Wende zu vollziehen. Um Teil der Lösung des Klimawandels zu werden, müssen die Rohstoffunternehmen also weiter mit Kapital unterstützt werden, um ihren wachsenden Bedarf an Rohstoffen zu decken und die Produktion zukünftig so wenig schädlich wie möglich zu gestalten.