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Noch ist nichts gewonnen

Ob zu Wochenbeginn die Aktenbmärkte angesichts der Einigung in Brüssel zum Sonderrolle der Briten in der EU erleichtert reagieren? Zwar wird das Gespenst „Brexit" nun gemeinsam bekämpft, aber die britische Regierung ist sich nicht einig. Ende Juni will David Cameron seine Bevölkerung über einen möglichen EU-Austritt abstimmen lassen. Nicht nur für Europa und die Wirtschaft, sondern auch für jeden einzelnen Briten steht dabei viel auf dem Spiel.

BÖRSE am Sonntag

Ob zu Wochenbeginn  die Aktenbmärkte angesichts der Einigung in Brüssel zum Sonderrolle der Briten in der EU erleichtert reagieren? Zwar wird das Gespenst „Brexit" nun gemeinsam bekämpft, aber die britische Regierung ist sich nicht einig. Ende Juni will David Cameron seine Bevölkerung über einen möglichen EU-Austritt abstimmen lassen. Nicht nur für Europa und die Wirtschaft, sondern auch für jeden einzelnen Briten steht dabei viel auf dem Spiel.

Es ist ein Zeichen, mit dem David Cameron Geschichte heraufbeschwört. Keine zwölf Stunden nach dem Marathon-Gipfel in Brüssel hat der britische Premierminister in London bereits das Kabinett zu einer Sondersitzung in die Downing Street zusammengerufen. Es ist die erste Wochenend-Sitzung der britischen Regierung seit dem Falkland-Krieg – und der liegt über 30 Jahre zurück. Doch nicht nur in den Augen des Tory-Politikers steht erneut die Zukunft des Landes auf dem Spiel.

Lässt sich der Brexit mit der Einigung von Brüssel noch abwenden? Cameron will darauf nun so bald wie möglich eine Antwort erhalten. Nach einer zweistündigen Kabinettssitzung in Downing Street No. 10 tritt am Samstag ein abgekämpfter Regierungschef vor die Kameras, um zu verkünden, was viele politische Beobachter bereits geahnt hatten: Bereits am 23. Juni dürfen die mehr als 60 Millionen Briten darüber entscheiden, ob sie als erstes Land in der Geschichte der Europäischen Union die Gemeinschaft freiwillig verlassen wollen.

Last Exit Brexit? Cameron selbst macht dabei unmissverständlich klar, auf welcher Seite er kämpfen wird. „Ich bin fest davon überzeugt, dass Großbritannien sicherer, stärker und besser aufgehoben ist, wenn es in einer reformierten EU verbleibt“, spricht er mit fester Stimme in die Kameras vor dem Londoner Regierungssitz. Der erfahrene Tory-Spitzenmann weiß, dass die demonstrative Eile der Regierung auch einem politischen Zweck folgt. Es geht auch darum geht, schnell die Deutungshoheit über den erzielten Kompromiss zu erlangen.  Denn die größte Herausforderung steht dem Premier nun erst noch bevor:  Er muss nun auch seine Bevölkerung von den Vorzügen seines Deals – und noch viel wichtiger - von der EU-Gemeinschaft  überzeugen.

Poker is the game

Alles auf eine Karte. Der Kompromiss aus Brüssel soll den Grundakkord liefern, auf dem Camerons Kampagne für die Volksabstimmung aufsetzen will – aber auch die Gegner machen bereits mobil. Denn selbst Camerons Kabinett ist in dieser Frage tief gespalten – und die Sondersitzung ist auch der Startschuss für seine Gegner das Visier zu öffnen. So outet sich unter anderem mit Camerons Justizminister Michael Gove ein Schwergewicht der Tories umgehend als Befürworter eines Verlassens der Gemeinschaft, während die britische Innenministerin Theresa May sich auf die Seite von Cameron schlägt. Der Juni wird damit zum Sommer der Entscheidung – und nicht nur für Großbritannien zu einer Schicksalsfrage. Denn Cameron sucht auf der Insel in dieser wichtigen Frage mit diesem frühestmöglichen Datum die Flucht nach vorne. Bislang hatte die Regierung in London lediglich erklärt, die Volksabstimmung werde bis Ende 2017 stattfinden.

Der rasche Abstimmungstermin folgt dabei politischem Kalkül: Cameron hofft mit dem Rückenwind des Gipfel-Erfolgs die Briten nun mit einer Pro-EU-Kampagne zum Verbleib zu bewegen. Zudem möchte der Brite unter allem Umständen verhindern, dass die Debatte um einen möglichen Brexit mit der Bundestagswahl in Deutschland und der Präsidentschaftswahl in Frankreich im Jahr 2017 zusammenfällt.

Die Auswirkungen werden noch die Enkel spüren

Bleiben oder Gehen? Es ist eine einfache Frage, auf die die Briten eine klare Antwort finden müssen - aber die Konsequenzen dieser Entscheidung werden weit über das Königreich hinausreichen. Ein Austritt könnte die Gemeinschaft in die schwerste Krise ihrer Geschichte zu stürzen. Denn es steht viel auf dem Spiel. So rechnet die übergroße Mehrheit der Unternehmenslenker in Deutschland und Großbritannien bei einem Ausstieg der Briten aus der Europäischen Union nach einer Studie mit massiven wirtschaftlichen Einbußen. Die Frage 'Brexit' oder 'Drinbleiben' spaltet jedoch nicht nur die britische Bevölkerung, sondern auch das Kabinett sowie Camerons konservative Tory-Partei.  Es ist ein Bild der Zerrissenheit, das die ganze Insel prägt: Umfragen sagen beim Referendum ein äußerst knappes Rennen voraus.

Der Zeitdruck birgt deshalb auch Risiken: Sowohl dem Pro- als auch dem Contra-Lager für eine Zugehörigkeit in der EU bleiben nur wenige Monate, um ihre Anhänger zu mobilisieren  – und niemand weiß, wie eine mögliche neue Flüchtlingswelle oder ein neuer Terroranschlag in Europa in diesem Sommer den Urnengang in dem in der EU-Frage tief zerrissenen Land beeinflussen kann. Cameron, der innenpolitisch angesichts der Schwäche der oppositionellen Labour-Partei unumstritten ist, steht damit vor seiner wichtigsten politischen Bewährungsprobe. Denn ein Exit hätte nicht nur Europa und die Wirtschaft gravierende Folgen, sondern dürfte auch Cameron, der schließlich den EU-Kompromiss eingefädelt hat, das Amt kosten – wenngleich sich der Premier bemüht, solche Überlegungen herunterzuspielen.

Mit großer Aufmerksamkeit wird deshalb jedes Details der bevorstehenden Abstimmung verfolgt. So lauten die zwei Antwortmöglichkeiten, die den Briten bei dem Referendum vorgelegt werden, nicht Ja oder Nein, sondern 'Bleiben in der Union' sowie 'Verlassen der Union', was die Gegner um das positive 'Ja' bringt. Es sind kleine Winkelzüge, die aber möglicherweise angesichts des wohl knappen Wahlausgangs nicht ohne Bedeutung sind. So monieren Befürworter eines EU-Austritts bereits, dass ihre Option erst an zweiter Stelle auf dem Stimmzettel genannt wird. Denn längst haben sich Befürworter und Gegner organisiert, längst bringt sich auch die Wirtschaft immer deutlicher in Stellung.

Es sei „eine Phantasterei“, anzunehmen, dass die britischen Unternehmen nach einem Austritt aus der EU weiter Zugang zum europäischen Binnenmarkt hätten, ohne dessen Regeln zu befolgen, warnte bereits Stuart Rose, der frühere Chef des Kaufhauskonzerns Marks & Spencer. Rose leitet die Bewegung 'Britain Stronger in Europe' und ist einer der profiliertesten Proeuropäer in der britischen Wirtschaft. Denn auch für die Briten geht es um viel: Die anderen EU-Staaten waren 2014 mit einem Anteil von 45 Prozent der Exporte und 53 Prozent der Importe die mit Abstand wichtigsten Handelspartner Großbritanniens. Doch auch die Gegner in der Wirtschaft formieren sich längst. „Großbritannien würde ein besserer Ort, wenn die Insel die EU verlassen würde“, warb der Hedgefonds-Manager Martin Hudges diese Woche unumwunden für einen Austritt. Ein Exit würde die Insel von Brüssels regelmäßigen Macht-Eingriffen befreien, argumentiert der Finanzmanager. Spätestens Ende Juni wird Europa wissen, welche Argumente die Briten mehr überzeugen. Handelsblatt / Carsten Herz