Kaufen, wenn die Kanonen donnern?
Der Dax reagiert auf die Entspannungssignale an der ukrainischen Grenze mit einem Ausfallschritt nach oben. Offenbar ist in Krisenfällen die Kauflust der Anleger doch nicht so groß, wie der Spruch von den donnernden Kanonen unterstellt. Tatsächlich aber gilt: Politische Börsen haben immer kurze Beine, wie eine Langfrist-Analyse ergibt.
Der Dax reagiert auf die Entspannungssignale an der ukrainischen Grenze mit einem Ausfallschritt nach oben. Offenbar ist in Krisenfällen die Kauflust der Anleger doch nicht so groß, wie der Spruch von den donnernden Kanonen unterstellt. Tatsächlich aber gilt: Politische Börsen haben immer kurze Beine, wie eine Langfrist-Analyse ergibt.
„Breaking News“ flackern im Sekundentakt über die Bildschirme: Russland verlegt Truppen weg von der ukrainischen Grenze. Und prompt reagieren die Börsen mit einem entspannten Schwung nach oben. Immerhin 1,6 Prozent ist es heute mit dem Dax bergauf gegangen, als sich andeutete, dass im Ukraine-Konflikt die Zeichen möglicherweise auf Entspannung stehen.
Würde es nach dem Bankier Carl Mayer von Rothschild gehen, liefe hier etwas falsch. „Kaufen, wenn die Kanonen donnern, und verkaufen, wenn die Violinen spielen“ heißt dessen markige Börsenregel, die er Anfang des 19. Jahrhundert aufstellte. Was er meint: Beim Anlegen kommt es aufs Timing an. Und manchmal ist es richtig antizyklisch zu investieren, also zu kaufen, wenn alle anderen entsetzt der Börse den Rücken kehren und die Kurse fallen.
Was ist da dran? Die Finanzbuchautorin Jessica Schwarzer hat jüngst in ihrem Buch „Sell in may and go away“ Börsenweisheiten von Rothschild bis zu Investorenlegende André Kostolany auf ihre Haltbarkeit abgeklopft und kommt beim Spruch über die donnernden Kanonen zu einem ernüchternden Ergebnis: „Politische Ereignisse bringen die Märkte nur kurz aus dem Tritt.“ Sie hält dem Bankier aus dem 19. Jahrhundert eine andere Börsenweisheit entgegen, die lautet: „Politische Börsen haben kurze Beine.“
In den Geschichtsbüchern finden sich viele Beispiele, die diese Börsenregel belegen. Etwa, als am 19. August 1991 die ersten Gerüchte über einen bewaffneten Aufstand gegen den Präsidenten der damaligen UdSSR Michail Gorbatschow die Runde machten, stürzten an der Frankfurter Börse die Kurse ab. Einige Tage später – die Putschisten waren zur Aufgabe gezwungen worden, Gorbatschow war nach Moskau zurückgekehrt – hatte der Dax sich wieder erholt. Der 11. September mit dem Angriff von Terroristen auf die USA war ein epochales Ereignis, Anleger machten daraus allerdings keine große Nummer. Der deutsche Börsenindex Dax brach innerhalb von Stunden um 8,5 Prozent ein, um sich dann innerhalb von acht Wochen wieder auf sein vorheriges Niveau zurückzukämpfen. Die große Weltpolitik - sie hatte die deutschen Standardwerte nur kurz belastet.
André Kostolany sagte einst: „Staatsbankrott? Bankenkrisen? Darauf gibt es nur eine Antwort: Viel Lärm um nichts!“ Und Ukraine-Krise hin, Brexit her – es sieht ganz so aus als habe der Altmeister noch immer Recht. Natürlich werde niemand ernsthaft behaupten, dass politische Entscheidungen grundsätzlich keine langfristigen Auswirkungen auf die Börsen haben, schreibt Finanzbuchautorin Schwarzer. Politik und Finanzmärkte seien in den vergangenen Jahrzehnten immer enger zusammengewachsen. Notenbanken, die nicht ganz und gar unabhängig von der Politik agierten, bestimmten das Marktgeschehen. Deren Geldpolitik zur Rettung hochverschuldeter Staaten spielten eine entscheidende Rolle bei der Einschätzung der Entwicklungen an den Märkten. „Doch viele Investoren sind nach wie vor überzeugt, dass politische Kapriolen eben nicht nachhaltig auf die Börsenstimmung drücken.“
Echte Trends an den Börsen ließen sich am besten mit Blick auf die ökonomischen Fakten und ohne größere Rücksicht auf die aktuelle Politik einschätzen. Wichtiger als politische Ereignisse seien am Ende Geschäfts- und Gewinnentwicklungen der Unternehmen. Kursschübe, die durch politische Ereignisse ausgelöst werden, seien von begrenzter Dauer. Allerdings, so schränkt Schwarzer ein: Sie kämen fast ununterbrochen und überlagerten andere Faktoren – zumindest kurzfristig. „Und nicht nur die Häufigkeit der politischen Interventionen nimmt zu, sondern auch die Intensität, mit der die Märkte darauf reagieren, positiv wie negativ.“
Allerdings gibt es Ausnahmen von der generellen Ruheregel, und die passieren dann, wenn die Politik Entscheidungen trifft, die direkt auf börsennotierte Unternehmen durchschlagen. Der Atomausstieg und die Energiewende sind solche Beschlüsse. „Die Entscheidung für den deutschen Atomausstieg nach der Katastrophe von Fukushima ist ein gutes Beispiel dafür, dass politische Börsen manchmal auch verdammt lange Beine haben können“, schreibt Schwarzer. Der einst so verlässliche Versorgersektor gehört seither zu den Sorgenkindern an der Börse.
Manchmal sind die Auswirkungen der Politik auf die Börsen auch ziemlich einfach vorauszusagen. Beispiel USA: Alle vier Jahre wählen die Amerikaner einen neuen Präsidenten und der Wahlzyklus beeinflusst die Börsen. Die höchsten Renditen erzielen Anleger durchschnittlich in einem Vorwahljahr. Der Grund leuchtet ein: Der Präsident will im Weißen Haus und seine Partei stärkste Macht bleiben – also buhlen sie um Stimmen. „Über stimulierende Maßnahmen freuen sich auch die Börsianer.“ Die Kurse zögen regelmäßig an. Im dritten Jahr einer Präsidentschaft sind hingegen keine großen Kurssprünge zu erwarten. Denn dann werden in der Regel die letzten erforderlichen Konsolidierungen der Legislaturperiode durchgezogen. Solche Einschnitte werden so terminiert, dass sie die nächste Stimmabgabe nicht negativ beeinflussen.
Die Reaktionen der Märkte auf den Wahlsieg Joe Bidens beweisen, wie kurz die Beine der Börse sind. In den Tagen nach der Wahl jubelten die Anleger und der Dax legte innerhalb einer knappen Woche um acht Prozent zu. Dann verlangsamte sich der Anstieg und inzwischen tendiert der Börsenindex seit einem knappen Jahr eher seitwärts. „Wenn irgendein Ereignis auf dem Markt eine psychologische Wirkung haben sollte, muss sie sofort kommen, denn am nächsten Tag ist das Ereignis vergessen“, wusste Kostolany.
Und das gilt auch für Ereignisse wie eine Eskalation im Ukraine -Konflikt und deren Auswirkung auf die Börsen. Die berechneten Szenarien sehen so aus: Europäische Aktien würden um bis zu zehn Prozent einbrechen, Öl der Marke Brent auf 100 Dollar je Barrel steigen, der Gaspreis noch stärker um bis ein Fünftel zulegen. Spiegelbildlich dazu ist eine Flucht in sichere Häfen zu erwarten, was den Goldpreis weiter beflügeln dürfte. Ein Ansturm auf erstklassige Schuldner könnte die Renditen für zehnjährige US-Bonds und deutsche Bundesanleihen um 0,2 Prozentpunkte drücken.
So lautet das Resümee, des Handelsblatts nach einer Umfrage unter internationalen Investoren. Märkte nahe der Ukraine wie Österreich und Polen könnten um mehr als zehn Prozent verlieren. „Panik-Übertreibungen wären möglich“, sagt Marcel Müller, Leiter Portfoliomanagement bei HQ Trust – wobei auch schon bei dieser Wortwahl deutlich wird: Panik und Übertreibung sind beides Phänomen, die nicht lange anhalten. „Politische Börsen“, so sind sich die meisten Investoren noch immer einig, „haben eben kurze Beine.
Oliver Stock
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