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Türkischer Zorn verschreckt Investoren

Istanbuler Börse bricht ein. Kurze Verschnaufpause oder längere Talfahrt? Eine Protestwelle erschüttert derzeit die Türkei. Lange aufgestauter Unmut über die Regierung des Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan bricht sich Bahn. Diese antwortet mit Gewalt. Bei den Zusammenstößen zwischen Demonstranten und Polizei wurden bislang drei Menschen getötet, weit über 4.000 wurden verletzt, 43 von ihnen ringen um ihr Leben.

BÖRSE am Sonntag

 

Istanbuler Börse bricht ein. Kurze Verschnaufpause oder längere Talfahrt? Eine Protestwelle erschüttert derzeit die Türkei. Lange aufgestauter Unmut über die Regierung des Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan bricht sich Bahn. Diese antwortet mit Gewalt. Bei den Zusammenstößen zwischen Demonstranten und Polizei wurden bislang drei Menschen getötet, weit über 4.000 wurden verletzt, 43 von ihnen ringen um ihr Leben. Erinnerungen an den 2010 begonnenen arabischen Frühling mit Protesten, Aufständen und Revolutionen in der arabischen Welt werden wach. Auch die türkische Regierung sieht sich nun einer Machtprobe dieser Größenordnung ausgesetzt. Große politische Unsicherheit ist die Folge. Sie ist auch am türkischen Aktienmarkt zu spüren. Hier brachen die Kurse jüngst deutlich ein.

Es begann als friedlicher Protest in der Hauptstadt Istanbul. Überwiegend jungen Menschen versammelten sich Ende Mai im Taksim-Gezi-Park, um gegen die geplante Abholzung von rund der Hälfte aller Bäume zu demonstrieren. Die Grünanlage sollte einem Einkaufszentrum weichen. Am 31. Mai eskalierte die Lage, als Polizisten mit Wasserwerfern und Tränengas gewaltsam ein Lager räumte, das selbsternannte Parkschützer errichtet hatten. Das brachte ein Fass zum Überlaufen, dessen brisanter Inhalt auch nach Jahrzehnten die Gemüter erregt, denn auch die schleichende Entwicklung der Türkei in Richtung eines radikal-islamischen Staates ist nur ein Grund unter mehreren. Die darunterliegende, mentale Magmakammer betrifft den Holocaust an den Armeniern, den Umgang mit den 12,5 Millionen Aleviten im Lande, die zumeist kurdischer Abkunft sind, sowie die Vertreibung der Griechen aus Ionien, vor allem aus dem heutigen Izmir, sowie aus Städten wie Adrianopel, heute Edirne.

Ein kleiner Funke genügte, um die alten Ängste und Verletzungen wachzurufen. Inzwischen wurde das ganze Land von Protesten erfasst. Seither gab es täglich gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Polizei. Nicht zuletzt auch deshalb, weil der seit 2002 amtierende Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogans einmal mehr Taktgefühl vermissen ließ und zusätzlich Öl ins Feuer goss. Zwar versuchten Mitglieder seiner Regierung zu deeskalieren und gaben öffentlich zu, dass das harte Vorgehen gegen die Demonstranten im Taksim-Gezi-Park falsch gewesen sei. Erdogan hielt jedoch unbeirrt am Bau des Einkaufszentrums fest, dessen Planung auf dem Grund des Taksim-Platzes die Unruhen aislöste. Er betonte diesbezüglich, dass sich die Regierung nicht einer Minderheit beugen werde und der Taksim-Platz kein Ort sein dürfe, an dem Extremisten machen können, was sie wollen. Die Demonstranten wurden, derart desavouiert, in ihren Protesten gegen die Regierung noch gestärkt.

Kritik an der Regierung

Schon seit längerem herrscht wachsender Unmut in der Bevölkerung über die Regierung Erdogans und seine islamisch-konservative Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP). Bemängelt wird beispielsweise, dass im Sinne einer strikt religiösen Auslegung des Koran immer mehr Bürgerrechte beschnitten werden. Der Gewerkschaftsbund KESK rief angesichts des jüngsten gewaltsamen Vorgehens der Polizei im Taksim-Gezi-Park sogar zu einem zweitägigen Streik im öffentlichen Dienst auf, um so ein Zeichen für eine „demokratische Türkei“ zu setzen und gegen den „Faschismus“ der Regierungspartei AKP auf die Barrikaden zu steigen. In den aktuellen Demonstrationen schlägt sich zudem die Empörung über den autoritären, selbstherrlichen Regierungsstil Erdogans sowie die immer wieder so empfundene Staatswillkür nieder. Das aktuelle Beispiel mit dem Einkaufszentrum unterfüttert dies eindrucksvoll. Eine Modernisierung des Staates unter strikt islamischen Vorzeichen, die allein darauf begrenzt ist, einen wirtschaftlichen Aufschwung mit allen Mitteln durchzusetzen, zur Not auch mit Gewalt, scheint in der Türkei kaum durchführbar. Eine starke gesellschaftliche Gruppe kämpft für eine laizistische Türkei, und sie hat in den westlichen Landesteilen eine Mehrheit. Dauerhaft lässt sich die Art, mit Koran und Knüppel zu regieren, nicht rechtfertigen. Solange in breiten Bevölkerungsschichten das Wirtschaftswachstum, sofern vorhanden, auch fühlbar ankommt oder zumindest die Zuversicht auf steigende Löhne besteht, mag dies gut gehen. Wehe aber, wenn sich die Hoffnungen nicht erfüllen! Und genau dies ist in den letzten beiden Jahren zu beobachten. In den aktuellen Protesten dürften sich, basierend auf den Wunden aus der Vergangenheit, somit auch die Auswirkungen der zuletzt merklich nachgelassen Konjunkturdynamik widerspiegeln.
Wachstum hat sich merklich abgekühlt

In der Tat, der mit Staunen beobachtete Boom in der Türkei scheint erst einmal vorbei zu sein. In der seit 2002 dauernden Amtszeit Erdogans hatte das Schwellenland am Bosporus einen gewaltigen wirtschaftlichen Aufschwung mit einer schnell fortschreitenden Industrialisierung erlebt. Zudem gab es Fortschritte bei Erdogans erklärtem Ziel, die eklatante Kluft zwischen dem industrialisierten Westen und dem vor allem durch Landwirtschaft geprägten und damit strukturschwachen Osten zu verringern. Außerdem investierte das Land fleißig in den Ausbau seiner Infrastruktur, insbesondere in Häfen, Eisenbahnen, Straßen sowie die Strom- und Wasserversorgung. Damit kurbelte Erdogan den Handel mit den Nachbarn an und förderte Investitionen aus dem Ausland. Der Boom wurde nur 2008/2009 kurz unterbrochen, als sich die Türkei der weltweiten Konjunkturflaute auch nicht entziehen konnte. 2010 und 2011 gab dafür einen umso stärken Aufschwung: In diesen beiden Jahren lagen die Quartalssteigerungen beim Bruttoinlandsprodukt jeweils bei mehr als fünf Prozent, und das teils sogar deutlich. Im ersten Quartal 2011 waren es sogar 12,4 Prozent (siehe Grafik 1). Seither kühlte sich das Wirtschaftswachstum jedoch kontinuierlich von Quartal zu Quartal ab. In der zweiten Jahreshälfte 2012 lag es bei nur noch 1,6 respektive 1,4 Prozent

Deutlich wird die nachlassende Dynamik auch an den türkischen Jahreswachstumsraten. Wurden 2010 und 2011 noch stattliche Steigerungen von 9,2 und 8,8 Prozent erzielt, waren es 2012 im Jahresdurchschnitt nur noch 2,2 Prozent (siehe Grafik 2). Laut den Prognosen des IWF soll die Dynamik 2013 und 2014 jedoch wieder auf mehr als drei Prozent zunehmen. Ob diese Erwartungen realistisch sind, bleibt abzuwarten. Ein erster Hinweis könnte sich am nächsten Dienstag ergeben, wenn die BIP-Daten für das erste Quartal 2013 veröffentlicht werden. Gute Daten sind dabei wohl aber nicht zu erwarten. Schließlich hatte die türkische Notenbank im Mai abermals die Leitzinsen von fünf auf das Rekordtief von 4,5 Prozent gesenkt. Sie lockerte damit bereits zum dritten Mal seit November 2012 die Zinsschraube.

Börse unter Druck

Die Wirtschaftszahlen sind gewiss wichtig, doch entscheidend wird sein, wie sich die Proteste gegen die Regierung weiter entwickeln. Sie sind eine ernst zu nehmende Machtprobe für Erdogan. Die sich daraus ergebende politische Unsicherheit ist auch an der türkischen Börse zu spüren. In der Vorwoche bereits in den Reigen der weltweit an vielen Aktienmärkten auszumachenden Korrekturen eingeschwenkt, brachen die Kurse türkischer Firmenpapiere am vergangenen Montag dann deutlich ein. Der Leitindex BIST 100 rutschte zwischenzeitlich um bis zu 10,5 Prozent ab, beruhigte sich an den folgenden Tagen dann jedoch wieder etwas. Unsicherheit mögen Investoren gar nicht, sodass es nicht verwundert, wenn sie erst einmal Kasse machen. Ausgehend vom Allzeithoch am 22. Mai hatte das Kursbarometer sogar um 17,6 Prozent an Wert verloren. Dieser Rücksetzer ist damit zweifelsohne beachtlich, im Kontext der letzten großen Aufwärtswelle seit Januar 2012 – der Leitindex stieg um fast 90 Prozent – kann aber noch von einer normalen Korrektur gesprochen werden. Dies gilt umso mehr bei Betrachtung des übergeordneten Anstiegs seit dem Zwischentief von November 2008 von beinahe 350 oder, noch weiter gefasst, für die Bilanz der vergangenen zehn Jahre, die mit einem Kursplus von rund 750 Prozent glänzend ausfällt. Der Blick auf den Langfristchart offenbart zudem, dass kurze, aber knackige Korrekturen auftreten können. Die Vorhersage, ob diese sich zu größeren Schwächephasen ausweiten, ist indes schwer. So stellt sich aktuell einerseits die Frage, ob es sich bei dem jüngsten Einbruch nur um eine temporäre normale Verschnaufpause handelt oder ob mehr dahintersteckt. Eine weiter eskalierende Lage in der Türkei würde die politische Unsicherheit deutlich verstärken und damit weitere Investoren verschrecken. Der jüngste Kursrutsch könnte daher der Anfang eines noch größeren Einbruchs gewesen sein.