Warum deutsche Firmen immer öfter im Ausland an die Börse gehen
New York statt Frankfurt. Erfolgsgeschichten, wie die um den rheinland-pfälzischen Latschenhersteller Birkenstock werden an der Wall-Street vergoldet. Der IPO im Heimatland wird verschmäht.
New York statt Frankfurt. Erfolgsgeschichten, wie die um den rheinland-pfälzischen Latschenhersteller Birkenstock werden an der Wall-Street vergoldet. Der IPO im Heimatland wird verschmäht.
Am Ende verlief der Gang aufs Parkett enttäuschend. Mit einem Minus von 13 Prozent am ersten Handelstag verfehlte Birkenstock die eigenen Erwartungen deutlich. Bereits zum Start unterschritt der traditionsreiche deutsche Schlappenproduzent mit 8,6 Milliarden die ursprünglich angestrebte Bewertung von zehn Milliarden US-Dollar. Zweifellos ein Stimmungskiller, nachdem es die Latsche aus Linz am Rhein in diesem Kino-Sommer sogar an die Füße von Barbie geschafft hatte.
Aus deutscher Sicht schon vorher ein schwerer Dämpfer: Mal wieder findet der Börsengang eines hiesigen Unternehmens in den USA statt. Und wieder ist es einer der bedeutenderen, denn die anfänglichen Kursverluste dürften an dem eigentlichen Siegeszug der einst biederen Hauschuh-Sandale kaum etwas ändern, was das Barbie-Beispiel allein eindrucksvoll beweist. Die Neuerfindung der angestaubten Marke als hippes, exklusives Mode-Accessoire ist eine beachtliche Erfolgsgeschichte. 2022 erzielte Birkenstock, das inzwischen zu LVMH, dem größten Luxusgüterkonzern der Welt, gehört, einen Rekordumsatz von 1,2 Milliarden Euro. Längst findet man die kultigen Korktreter auf den Laufstegen in Paris und Mailand. Birkenstock ist auf dem besten Weg zur globalen Mode-, Lifestyle, und Luxusmarke. Gut möglich, dass der verpatzte Börsengang in ein paar Jahren als Einstiegschance in Erinnerung bleibt.
Warum wird diese Erfolgsgeschichte nicht in Frankfurt vergoldet? Gibt es niemanden mehr, der sich hierzulande begeistern lässt für Fortschritt und Ideen? Wo sind die Wachstumsfantasie und die Lust aufs Risiko in diesem Land geblieben? Sind Investoren so schwer zu finden?
Birkenstock ist kein Einzelfall. Ein weiteres prominentes Beispiel ist Biontech. Auch das Mainzer Biotechnologieunternehmen, bekannt für seine Corona-Impfstoffe auf mRNA-Basis, wählte 2019 die US-Tech-Börse Nasdaq für seinen IPO. Biotech-Konkurrent CureVac aus Tübingen ein Jahr später ebenso. Für besonderes Aufsehen sorgte in diesem Jahr das Delisting des weltgrößten Industriegasekonzerns Linde. Zuvor sowohl in Frankfurt als auch in New York an der Börse, entschied sich das Management 2023 für den Komplett-Umzug in die USA. Die Liste lässt sich beliebig fortsetzen. Auch mit Unternehmen, die schlicht ganz von der Börse verschwinden, weil sie beispielsweise von Finanzinvestoren aufgekauft werden. Aktuell stehen hierzulande die Delistings des Softwareanbieters Suse, des Labor-Dienstleisters Synlab und der Aareal-Bank an. Hinzu kommen Deals, wie der Verkauf des Wärmepumpen-Produzenten Viessmann an die amerikanische Konkurrenz. Ein Börsengang kam für die Eigentümer offenbar als Alternative nicht in Frage. Und zu guter Letzt gibt es dann noch Firmen, die gern in Deutschland an die Börse wollen würden, aber den IPO immer weiter in die Zukunft schieben müssen. Der Rüstungszulieferer Renk sagte seinen Börsengang jüngst wenige Stunden vor dem geplanten Start ab und nannte als Grund das deutlich eingetrübte Marktumfeld. Heißt im Umkehrschluss: Es gab schlicht zu wenig Nachfrage nach den Papieren des Panzergetriebeherstellers. Schon seit 2015 im Raum steht der IPO des Personalsoftware-Entwicklers Personio, mit einer Bewertung von acht Milliarden Euro Deutschlands zweitwertvollstes Start-Up hinter Celonis. Doch Chef Hanno Renner erteilte einem baldigen Sprung aufs Parkett in einem Handelsblatt-Interview nun erneut eine Absage. Man wolle sich zunächst auf das weitere Wachstum konzentrieren, so der CEO. In den USA wäre ein Unternehmen wie Personio genau aus diesem Grund wohl längst an der Börse.
Der IPO steckt hierzulande in der Krise. Auch weltweit, weil der Privat Equity-Sektor boomt. Firmen erhalten inzwischen abseits der Börse genügend Kapital von Großinvestoren – vor allem in und aus den USA – und haben ohne Börsennotierung den Vorteil, weniger Vorschriften einhalten und weniger Offenlegungspflichten befolgen zu müssen. Hinzu kommen zahlreiche Übernahmen. Doch in Deutschland ist die Situation tatsächlich verheerend. Der hiesige Aktienmarkt listete vor rund 20 Jahren noch über 700 Firmen. Aktuell sind es noch etwas über 430. Angaben der Deutschen Börse nach wurden 2022 zwölf Unternehmen von der Börse genommen, nur vier kamen neu hinzu. Zahlen des Deutschen Aktieninstituts zeigen: Von 2016 bis 2020 gab es an der Deutschen Börse 42 IPOs. An der Euronext in Frankreich waren es 59, in Schweden an der Nasdaq OMX 190. In den USA an NYSE und Nasdaq zusammengenommen 884.
„Wir haben hier ein seit Jahren zunehmendes Problem“, sagte Norbert Kuhn, Leiter Unternehmensfinanzierung und stellvertretender Leiter des Fachbereichs Kapitalmärkte am Deutschen Aktieninstitut dem Manager Magazin. „Die Anzahl der Börsengänge in Deutschland ist viel zu niedrig, im Vergleich zum Bruttoinlandsprodukt und im Vergleich zu anderen Industrienationen.“ Es sei besorgniserregend, wie sich die Lage entwickle, so Kuhn weiter.
Das deutsche Aktieninstitut hat 2021 gemeinsam mit der Rechtsanwalts- und Wirtschaftskanzlei Rittershaus eine Studie zum Thema veröffentlicht. Als Basis dienten zahlreiche Interviews mit Unternehmern, deren Firmen im Ausland gelistet sind. Das Ergebnis war eindeutig: Entscheidender Faktor ist die Verfügbarkeit von Kapital. „Das beginnt bei der vorbörslichen Finanzierung, setzt sich beim Börsengang fort und betrifft die Möglichkeiten der Kapitalbeschaffung nach dem Börsengang über Sekundäremissionen“, schreiben die Autoren der Studie. Dem folgten die gesellschafts- und kapitalmarktrechtlichen Voraussetzungen. „Aus diesen Bausteinen formt sich ein leistungsfähiges Ökosystem mit Investoren, die über genügend Investitionskapital und Expertise verfügen, mit Banken und Analysten, die auch komplexe Geschäftsmodelle verstehen und an die Börse begleiten können, und mit ausreichend Unternehmen, die Investoren vergleichende Analysen erlauben.“ Deutschland habe hier eindeutig Nachholbedarf, so die Forderung der Experten.
Welche Schritte aber sind von Nöten, damit sich hier nennenswertes ändert? Sowohl die Analysten des Deutschen Aktieninstituts wie auch die Wirtschafts- und Finanzberatung Oxera im Auftrag des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie kommen zu dem Schluss: Entscheidend ist Deutschlands Rückstand in Sachen Aktienkultur. Beide bringen eine politisch geförderte Altersvorsorge mit Aktien und einen angemessenen steuerlichen Rahmen ins Spiel, wie beispielsweise die Steuerfreiheit von Gewinnen bei Aktienverkäufen. Beides würde mehr Kapital an die Märkte spülen. „Es gibt einen starken Zusammenhang zwischen der Ausgestaltung des Altersvorsorgesystems und der Größe von Kapitalmärkten“, schreibt Oxera.
Aber auch aus regulatorischer Sicht müsste sich etwas tun. „Eine Eingewöhnungszeit mit geringeren Kapitalmarktpflichten an der Börse, um jungen Unternehmen eine Brücke an den Kapitalmarkt zu bauen“, fordert das Deutsche Aktieninstitut. Und ein „modernes Aktienrecht, das auf die Bedürfnisse von Wachstumsunternehmen besser zugeschnitten ist“.
Darüber hinaus müsse die Leistungsfähigkeit des gesamten Ökosystems Kapitalmarkt über spezialisierte Investoren gestärkt werden, die das Wachstumspotenzial der Börsenkandidaten einschätzen könnten. „Deutschland ist dafür bekannt, dass sein System der Unternehmensfinanzierung von Banken dominiert ist, ein solches ist aber für die Finanzierung von Start-ups weniger geeignet“, schreiben die Experten von Oxera. Für die Finanzierung risikoreicher Neugründungen spielten insbesondere Venture-Capital-Beteiligungen eine große Rolle und in diesem Bereich liege Deutschland hinter dem europäischen Durchschnitt zurück.
Vor allem in der Biotechnologie-Branche ein großes Problem. Der Erfolg von Biontech wäre ohne die frühen Investitionen der Strüngmann-Familie, mehr als zehn Jahre vor Ausbruch der Corona-Pandemie, nie möglich gewesen. Mutige, risikobereite Geldgeber, wie die Hexal-Gründer, braucht es deutlich mehr im Land. „Deutschland ist ein exzellenter Wissenschaftsstandort mit erheblichen öffentlichen Investments für die Grundlagenforschung. Aber es fehlt investorenseitig an Expertise für die Biotechnologie und demzufolge an Investments für die klinische Entwicklung, in den USA ist das anders“, sagt Prof. Dr. Christof Hettich von Rittershaus.
Zur Wahrheit gehört allerdings auch: zuletzt hat sich die Lage in Deutschland insgesamt etwas aufgehellt. Die Börsengänge der ThyssenKrupp-Wasserstofftochter Nucera und des Verpackungsspezialisten für flüssige Medikamente, Schott Pharma, liefen sehr erfolgreich im Inland und gehören in diesem Jahr bis dato nach Größe zu den zehn bedeutendsten weltweit. „Auch wenn das Marktumfeld weiterhin mit Unsicherheiten behaftet ist, kommt endlich wieder Bewegung in den deutschen Emissionsmarkt. Die im abgelaufenen Quartal erfolgreich abgeschlossenen Transaktionen stimmen uns weiterhin zuversichtlich, dass auch im Schlussquartal 2023 und insbesondere im ersten Halbjahr 2024 weitere IPOs folgen werden“, sagt Stephan Wyrobisch, Kapitalmarkt-Experte bei PwC Deutschland.
Dennoch verbleibt die Tatsache: Die US-Börse ist im Vergleich risikofreudiger, liquider, anziehender für Investoren aus aller Welt. Die Chance auf eine bessere Bewertung ist an der Wall-Street nicht zuletzt im Start-Up-Bereich höher als in Frankfurt. Auch die inzwischen häufig von Beginn an globale Ausrichtung vieler Unternehmen und Marken, spricht für den Börsenplatz in New York. Bei Birkenstock fiel die Entscheidung für ein Listing an der NYSE auch, weil der Latschenschuh vor allem in den USA Kultstatus erreicht hat.
Oliver Götz
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